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Merz setzt auf das Rückwirkungsverbot



„Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt“ (Koalitionsvertrag).

Die besonders kleine Koalition von Union und SPD nimmt sich neben der leicht umformulierten Weiterführung der Ampelpolitik die obrigkeitsstaatliche Klärung der Meinungsfreiheit vor. Das wurde aber auch Zeit! Wo kämen wir alle hin, wenn die Wahrheit nicht in Berlin und in den Landeshauptstädten verkündet und dort geschützt wird? Soll jedes Bürgerlein etwa selbst auf Wahrheits- und Erkenntnissuche gehen?

Wahrheit und Tatsachen sind in Kürze das, was die staatlichen Hüter der Wahrheit als Wahrheit und Tatsachen festlegen. Diskussionen sind damit ausgeschlossen, weil alles von Oben geklärt ist.

Da Fragen wie Zweifel an der Wahrheit wirken, sind Fragen im Sinne der MerzKlingbeilschen Wahrheitsfestlegung wahrscheinlich unstaatsbürgerlich und werfen ein schräges Licht auf die Fragesteller. Also Bürger, hüte dich vor Fragen und der Suche nach eigener Erkenntnis! Die nächste Meldestelle liegt um die Ecke.

Gut wäre im Sinne der Wahrheitswisser die Erstellung und fortlaufende Aktualisierung von Wahrheits- und Tatsachenlisten. Ein Wahrheitskompendium als Einmaleins der ewigen und unverbrüchlichen Tatsachen sozusagen. Der Lenin in uns allen wäre stolz auf die neue Regierung. Die da Oben kennen die Wahrheit, die da Unten glauben an die Wahrheit von Oben. Mensch, Honecker, was hast Du nur falsch gemacht?

Die kommenden Regierigen werden sich in ihrem Vorhaben wahrscheinlich, jedenfalls in ihrem speziellen Falle, an des Rückwirkungsverbot des Rechtsstaatsprinzips halten. Was heißt, keine der vielen falschen Wahlkampfaussagen wird mit der neuen Meinungsfreiheits-Sicht in Kollision geraten. Weil diese Falschbehauptungen und -versprechungen in die Zeit vor der Großen Wahrheit fallen.

Bestraft werden falsche Wahrheiten erst ab demnächst und sie müssen nach Inkrafttreten der neuen Wahrheits-Benimm-Ordnung geäußert worden sein. Was Friedrich Merz, Lars Klingbeil und Genossen leichtfallen dürfte. Die müssen sich jetzt einfach immer nur an das halten, was sie verkünden, versprechen, vergesetzen.

Auch das Bürgerlein hat es jetzt leichter: Essen, Schlafen, Arbeiten, Nachrichten und Weisungen der Regierung ohne Nachfragen aufnehmen und befolgen. Nicht auffallen, gelernt ist gelernt.

Zur Meinungsfreiheit zitierte ich 2021 in meinem Beitrag für „Libertas Jahrbuch der Meinungsfreiheit“ (LIT Verlag) unter anderem Richard Schmid (1899-1986, SPD, zuletzt bis 1964 Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart in der „Zeit“ am 9. November 1962:

„Der Wahrheit zuliebe
… Diese Bedeutung werden wir am besten aus den historischen Wurzeln des Rechts erkennen. Als die Idee der freien Meinung bewußt entstand und als Menschenrecht begriffen wurde, war sie liberaler Natur; das heißt, sie war dem Individuum um seinetwillen zugedacht.

Für John Stuart Mill, den Philosophen des Liberalismus, ist es auch die Wahrheit, der zuliebe die Meinung frei sein muß, weil die Wahrheit aus dem Gegeneinander von Behauptung und Widerspruch entsteht.


Meinungsfreiheit
Den Einwand, die Meinung des Einzelnen oder der Minderheit sei schädlich, widerlegt Mill mit dem einfachen Argument: Daß die Meinung schädlich sei, sei auch nur eine Meinung.

Auch folgendes ist nicht weniger gescheit und richtig: "Aber der Hauptschaden, der durch das Verbot freier Erörterung entsteht, wird nicht in den Köpfen der Ketzer (heute sagt man Nonkonformisten) angerichtet.

Der größte Schaden entsteht bei denen, die keine Ketzer sind und deren geistige Entwicklung sich verkrampft und deren Vernunft durch die Furcht vor Abweichung eingeschüchtert wird.

Wer kann ermessen, was die Welt verliert durch die Menge fähiger Geister, die zaghaften Herzens sind und es nicht wagen, einem kühnen, kraftvollen, unabhängigen Gedankenweg zu folgen," (On liberty of thought and discussion, 1859)

In Amerika hat die "free-speech-Klausel… die Form, daß dem Gesetzgeber verboten wird, Gesetze zu machen, die die freie Rede einschränken.

Es ist ebenso schwierig, die Freiheit der Meinung zu gewähren, wie sie zu ergreifen. Da wir Deutsche immer noch demokratisch unterentwickelt sind, oder doch unterschiedlich entwickelt, haben wir mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung noch Schwierigkeiten.

Wir neigen dazu, auf Meinungen, die nicht die unseren sind, böse zu werden und dem, der sie äußert, nicht unsere bessere Meinung entgegenzusetzen und auf deren Überzeugungskraft zu vertrauen, sondern die Macht zur Unterdrückung auszuüben oder herbeizurufen. …

Nun hat allerdings die Freiheit der Meinungsäußerung auch ihren außerrechtlichen, gesellschaftlichen Aspekt; und die gesellschaftlichen Maßstäbe dafür, was erlaubt und was nicht erlaubt ist, decken sich mit den restlichen Maßstäben nicht immer.

Sie decken sich umso weniger, je mehr der staatliche Zustand sich vom demokratischen Ideal entfernt. …

Sobald Macht und Geltung unsicher werden, wird die Reaktion schärfer.

Zu einer Demokratie aber gehört, daß Macht und Geltung unsicher werden, weil die Macht vom Volke ausgeht und von Wahlen und von der öffentlichen Meinung abhängt.

Erst in einer reifen, stabilen Demokratie, wo sich eine gewisse Tradition in den demokratischen Prozeduren und im Vorgang des Machtwechsels gebildet hat, wird sich das Recht der freien Meinung wieder sicher entfalten können.
Soweit Richard Schmid 1962.

2025 würde Richard Schmid vielleicht feststellen, das mit der reifen stabilen Demokratie entglitt seit Angela Merkel und ihren Trojanern zusehends. Die Republik wurde (nicht nur) meinungsfreiheitlich rücktransformiert.

Nachtrag:
Allgemeines zum Rückwirkungsverbot
Das Rückwirkungsverbot resultiert aus der Tatsache, dass das Vertrauen des Bürgers auf die bestehende Rechtslage bzw. die bestehenden Gesetze geschützt wird. Es kann nicht sein, dass er sein Verhalten daran ausrichtet und dieses plötzlich ganz anders gewertet wird. Dieser Grundsatz des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit ist ein Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20 Abs. 3 GG.

 

 

 

 

 

 

 

 

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