
Einleitende Bemerkungen
Zwei Stimmen bieten die Wahlzettel zur Bundestagswahl dem gemeinen Bundesbürger an. Mit der Erststimme wählt der das jeweilige Wahlkreisvolk seinen Vertreter
im Bundestag. Die Erststimme sichert die flächendeckende Vertretung des Souveräns im höchsten Deutschen Parlament ab. Ein demokratietheoretisch herausragender Aspekt des Wahlrechts.
Parteien sind nicht der Staat, sind nicht die organisierte Meinungsbildung an sich, sondern wirken an der politischen Meinungsbildung im demokratischen Staat mit. So steht es im Grundgesetz Art.
21 (1). Die Parteien stehen nicht über dem Staat. „Erst die Partei, dann der Staat!“ ist damit theoretisch ausgeschlossen. Grau ist alle Theorie, ich weiß.
Die Mitwirkungsrolle am Wahlergebnis der Parteien erfüllt sich in der Zweitstimme zur Bundestagswahl. Mit der Erststimme bestimmt der Souverän den Wahlkreisvertreter und mit der Zweitstimme
„legt“ er die jeweilige Stärke der Parteien in der Volksvertretung fest.
Die jeweilig erreichten Prozente der Parteien nach den Zweitstimmen in den 16 Bundesländern sind die Obergrenze für die mögliche Anzahl zu entsendender Abgeordneten je Partei und
Bundesland.
Das erste gesamtdeutsche Parlament nach der Wiedervereinigung wurde am 2. Dezember 1990 in 328 Wahlkreisen gewählt. Theoretisch wären das 328 Direktwahlsieger und 328 Listenabgeordnete gewesen.
Machte zusammen 656 Bundestagsabgeordnete. Ins Parlament zogen aber 662, also 6 Abgeordnete mehr ein. Die 6 MdBs waren Überhangmandate, die sich ergaben, wenn Parteien mehr Direktwahlsiege
erreichten als ihre prozentuales Zweitstimmenergebnis zuließ. 6 MdBs mehr, das war kein Problem und wäre auch heute keins.
Für 2002 reduzierte der Bundestag die Zahl der Wahlkreise von 328 auf 299 um das Parlament zu verkleinern. Das war vernünftig. Es gab weiterhin Überhangmandate. Theoretisch wären 299
Direktwahlsieger und 299 Zweitstimmenabgeordnete in den Bundestag entsandt worden. Praktisch waren es aber 603 MdBs, also 5 Parlamentarier „über den Durst“. Diese 5 Abgeordnete mehr waren kein
Problem, wären es auch heute nicht.
Es blieb dem Bundestag für 2009 vorbehalten, das Institut des Ausgleichsmandats einzuführen. Der Abgeordneteninflation wurde damit Tür und Tor geöffnet. Die sozialistische Gerechtigkeit brach
sich Bahn, die „Benachteiligten“ der Überhangmandate wurden mit Ausgleichsmandaten belohnt.
Der Deutsche Bundestag sollte die Regeln des 1990er Wahlrechts auf der Basis der nunmehr 299 Wahlkreise wieder übernehmen! Die direkte Stimme und regionale Vertretung der Bevölkerung wäre wieder
gesichert und den inflationären Bundestag gäbe es auch nicht mehr.
Die einzigen Pokerspieler, die das verhindern wollen und können, sind die Parteiapparate. Weil die durch die Erststimme Einfluss verlieren. Noch besser wäre das Mehrheitswahlrecht. 299 Wahlkreise entsprächen 299 Abgeordneten. Nicht mehr, nicht weniger und das beinahe für
immer. Immer gibt es nur im Märchen, deshalb das Wörtchen „beinahe“.
Die Episoden
Richard Schröder
Ein bedeutender ostdeutscher Sozialdemokrat praktischen und philosophischen Hintergrunds wurde 1994 Opfer der Zweitstimme. Viele ostdeutsche Sozialdemokraten hofften
auf den Brandenburger Richard Schröder, den ersten und tatsächlich bedeutenden SPD-Fraktionsvorsitzenden in der Volkskammer der freien DDR. Richard Schröder kandidierte aber in keinem Wahlkreis
seines Bundeslandes. Er wollte niemandem vor Ort Konkurrenz machen. Stattdessen gab ihm die Brandenburger SPD den Listenplatz eins. Pech für Richard Schröder, Pech für Ostdeutschland, die
Brandenburger SPD gewann sämtliche Wahlkreise und die Liste „zog“ nicht mehr. Richard Schröder schaffte es nicht in den Bundestag. Ich und viele meiner Kollegen empfanden das als herben Verlust.
Richard Schröder wäre eine sehr gute Stimme das Ostens geworden.
Genörgelt hatte damals dennoch niemand in der SPD. So waren die Regeln und die waren okay.
Hermann Scheer
2008 drehte die SPD-Linke am Rad, besonders die Ypsilanti-SPD in Hessen. Vor der Wahl versprach Andrea Ypsilanti, niemals nicht eine Koalition mit Linksaußen
eizugehen. Nach der Landtagswahl galt das nicht mehr. „Solarpapst“ Hermann Scheer heizte ihr beim Vergessen des Wahlversprechens ordentlich mit ein. Er wollte in einem SPD-SED-Kabinett
nachhaltiger Sonnen-und-Wind-Wirtschaftsminister werden. Vier frisch gewählte hessische SPD-Landtagsabgeordnete verweigerten der Koalitionsbildung ihre Zustimmung. Der linke Furor gegen diese
freigewählten Deputierten war enorm und läßt sich nur dem jetzigen Furor gegen AfD-Mitglieder vergleichen. Teilweise wähnten sich diese mutigen Politiker in Lebensgefahr.
Die Situation wurde selbstverständlich auch in der SPD-Bundestagsfraktion heiß diskutiert. Hermann Scheer forderte die Rückgabe des Mandats der freigewählten MdLs.
Normalerweise spielte und spielt in den Fraktionen es nie untereinander eine Rolle, ob Kollegen direkt oder per Zweitstimme Abgeordnete waren. Kompetente Kollegen gab es sowohl unter den
Direktgewählten als auch unter den Listenabgeordneten. Für Ausfälle galt dasselbe.
Doch im Fall Hermann Scheer zog ich die Karte Erststimme in der Bundestagsfraktion. Scheer wollte, dass auch die Darmstädter Wahlkreissiegerin Dagmar Metzger ihr Mandat abgäbe. Scheer ist im Gegensatz zu Metzger zeitlebens nur über die Liste bei sehr mittelmäßigen Wahlkreisergebnissen ins Parlament eingezogen und besaß die
Frechheit, von Metzger, die ihren Wählern persönlich versprochen hatte, nicht mit der SED zu koalieren, den Bruch ihres Versprechens zu verlangen.
Das wollte ich nicht so stehen lassen. Ich ging in der Fraktion ans Mikro und gab ihm eine Klatsche vor der versammelten Mannschaft. Wörtlich sagte ich unter anderem „Ein Kollege, der das Wort
‚Direktwahlsieger‘ nur aus der Literatur kennt, verlangt die Rückgabe eines solchen Mandats. Ich bin erschüttert und fordere Scheer auf, das ungebührliche Verlangen zurückzunehmen. Demokratie
geht anders.“
Zur Koalition SPD/-SED kam es nicht, Scheers Hermann wurde auch nicht Minister.
Siehe auch: „Wenn Politik Züge von Religion
annimmt“ auf der Website von Dagmar Metzger.