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Liebesministerium R.A.F. Eine Tochter auf Spurensuche

 

 

 

 

Liebesministerium R.A.F.

Eine Tochter auf Spurensuche 

 

Gerold Hildebrand rezensiert 

 

Bettina Röhl„Die RAF hat euch lieb“. Die Bundesrepublik im Rausch von 68. Eine Familie im Zentrum der Bewegung. Paperback. Penguin 2024. ISBN: 978-3-453-60672-2.

https://www.penguin.de/buecher/bettina-roehl-die-raf-hat-euch-lieb-/paperback/9783453606722

 

 

Vor ein paar Monaten erschien die Paperback-Ausgabe einer Familiensaga mit historischer Brisanz. Die Tochter von Ulrike Meinhof entzaubert hartnäckig wabernde Mythen.

 

Die 68er Bewegung im Westen 

 

Andere ließen sich die Bibel in die Gefängnis-Zelle bringen. Im Stasi-Knast war das nicht einfach. Ulrike Meinhof verlangte dahingegen nach Marx, Lenin, Mao Zedong, Hồ Chí Minh, Võ Nguyên Giáp und Dossiers der Roten Hilfe. Das kannte sie zwar alles schon vor ihrer Verhaftung, die heiligen Schriften sollten nun ihrer Selbstvergewisserung dienen, um einer ideologisch unterfütterten Obrigkeitshörigkeit eigener Natur auch im Gefängnis nachkommen zu können.

Dabei wollten die „68er“ doch radikal antiautoritär sein. Diese Radikalität richtete sich aber lediglich gegen die „herrschenden Verhältnisse“, die in der Bundesrepublik der 60er Jahre nun wahrlich nicht mehr so autoritär waren wie von den „Revolutionären“ unterstellt. Bettina Röhl urteilt: „Die 68er wuchsen in paradiesischen Zeiten auf, es gab Vollbeschäftigung, einen anhaltenden Wirtschaftsboom, unendliche Freiheiten gerade für junge Leute, hervorragende Karrierechancen. Der Rechts- und Sozialstaat funktionierte und auch die Aufarbeitung der Nazivergangenheit hatte Ende der Fünfzigerjahre, lange vor den 68ern, begonnen.“

 

Die entzauberte Unheilige

 

Für manche Linke ist die zur Gewalt aufstachelnde Chef-Propagatorin der „Roten Armee Fraktion“ (R.A.F.), Ulrike Meinhof, noch immer eine Heilige des antikapitalistischen Furors. Bettina Röhl widerlegt diese Mythologie akribisch faktengestützt in ihrer mehr als 600 Seiten umfassenden Darstellung. Sie hat dazu jahrzehntelang mehrere Aktenmeter studiert, bisherige Veröffentlichungen und Theaterstücke analysiert, darunter regelrechte Apotheosen und Märchenerzählungen, und viele eigensinnige Zeitzeugen befragt. Zudem ist sie selbst Zeitzeugin. Auch wenn sie in den von ihr beschriebenen Jahren ein fünf- bis elfjähriges Kind war, kann sie sich gut erinnern und hat sogar eigene Tagebücher aufbewahrt.

 

Nicht einmal ein Plan für eine bessere nachrevolutionäre Gesellschaft ist irgendwo in den zahlreichen Verlautbarungen Meinhofs auch nur ansatzweise auszumachen. Konstruktive Konzepte? Fehlanzeige!

Frappierend ist, dass die Autorin eine große Anzahl ehemaliger Täterinnen und Täter sowie deren Unterstützer zum Reden gebracht hat, die allesamt zu schweigen gewohnt sind, wenn sie nicht gerade agitieren. Zugute kommt ihr dabei, dass sie die Tochter der großen Anführerin ist. So gelingt es ihr, die ganz persönlichen Tragödien zu entwirren und die abgründige Doppelmoral der fanatisierten Untergrundkämpfer zu sezieren.

 

Eine doppelte Kindesentführung

 

Bettina Röhl beklagt, dass ihre Mutter sie und ihre Zwillingsschwester Regine absichtlich mit „antibürgerlicher“ Attitüde verwahrlosen ließ. Die Autorin erinnert sich: „Schulbrot? Wir kamen mit zerlöcherten Strumpfhosen, irgendwelchen dreckigen Nickis, die Haare nicht geschnitten oder gekämmt, die Zähne nicht geputzt. Und keine Schulsachen dabei.“

Schlimmer noch, dass die Meinhof, als sie nach dem ersten Mordversuch der R.A.F., bei dem auf Linke geschossen wurde im Mai 1970, also auf den dadurch schwer verletzten Bibliotheksmitarbeiter Georg Linke, in den Untergrund verschwand, ihre Zwillinge in ein von Kommunisten unterwandertes sizilianisches Barackenlager für Erdbebenopfer verschleppen ließ und für sie sogar schon Plätze im „besten“ arabischen Waisenheim in Jordanien mit der Fatah (Abu Hassan) klar gemacht hatte. Bettina Röhl ahnt, was das bedeutet hätte: Zwangsverheiratung, Harem oder Abrichtung zur antisemitischen Attentäterin. Glücklicherweise vereitelten Familienfreund Peter Homann und der Spiegel-Redakteur Stefan Aust diese grausige Zukunft. Bei ihrem Vater Klaus Rainer Röhl in Hamburg-Blankenese wurden die Zwillinge fortan von Emmi Biermann, Mutter des bekannten und in der DDR verfolgten Liedermachers, liebevoll betreut.

 

Zuviel Gefühl

 

Hingegen fühlte sich Ulrike Marie Meinhof von jeglichen Gefühlen in ihrem revolutionären Geist beeinträchtigt. Man wollte ja schließlich die Welt retten. Mutterverantwortung störte da nur. Die Ideologie der chinesischen Kulturrevolution dehnte sie bis ins Privatleben aus. 

Andererseits inszenierte sich die Meinhof beflissen publikumswirksam als tieftraurige verletzte Mutter, die im Gefängnis von ihren Kindern getrennt ist und deren Sorgerecht per Gerichtsbeschluss an ihren geschiedenen Mann (Meinhofnannte ihn nur noch „Röhl, das Schwein“) übertragen wurde. Doch entgegen der ihr im linken Mainstream rasch zugeschriebenen Rolle als leidendes Opfer sah sie sich selbst längst nicht mehr als eigenständig Handelnde sondern als fabelhaftes Kollektivwesen. In einem Brief an die Kinder schrieb sie: „Die RAF hat euch lieb.“ Nicht etwa „lch, Eure Mutter“.

Verstand sich die kriminelle Vereinigung R.A.F. gar als orwellsches Liebesministerium oder seherisch als Stichwortgeberin für Erich Mielke? Aber der übererfüllte ja den Plan und „liebte“ gleich alle.

 

Hass auf die „Schweine“

 

Meinhofs Lieblingswort lautete „Die Schweine“. Das sind in Meinhofs Diktion nicht nur alle, die ihr widersprechen sondern auch alle, die sie und ihren „Klassenkampf“ nicht unterstützen. Häufig wurde die durchaus erfolgreiche und in der linken Schickeria angesehene Journalistin Meinhof als depressiv und erschöpft wahrgenommen. Wenn sie aber postuliert: "Wirklich - das einzige Mittel gegen die Angst ist der Hass“, so zeigt sich ein konstituierendes gemeinsames Merkmal aller Extremisten: die Feindbildproduktion - inklusive Vernichtungsphantasien: „Und natürlich kann geschossen werden.“ Ein linker Versandhandel in Schwabach hält aktuell einen Kapuzen-Pullover mit diesem Spruch zum Preis von 30 Euro bereit. https://www.linke-t-shirts.de/kapuzen-pullover/-und-natuerlich-kann-geschossen-werden_g213525.htm

Das finden sicherlich nicht nur Linksradikale anziehenswert.

 

Rekrutierungen 

 

Die Terrorbande R.A.F. rekrutierte vor allem Heimzöglinge, unterstützt vom Heidelberger „Psychiater“ Wolfgang Huber. Psychisch Kranke hätten seiner Ansicht nach revolutionäres Potenzial, sie seien daher als politische Gefangene anzusehen. „Mahler, Meinhof, Baader - das sind unsre Kader“ reimten 1971 Mitglieder des „Sozialistischen Patientenkollektivs“ (SPK, nicht zu verwechseln mit heute noch existierenden Parteien und Gruppierungen).

Letztlich hätte es die Terroristin Meinhof gern gesehen, wenn sie auch ihre Kinder, die sie als reine Erziehungs- bzw. Manipulationsobjekte betrachtete, für den „der Kampf geht weiter“ hätte anwerben lassen können.

„Jeder Selbstmord ist ein Mord des Kapitals“, lautete eine der kruden Parolen Hubers, der von Sartre unterstützt wurde. Eine programmatische Vorwegnahme der Stilisierung der Selbstmorde in Stuttgart-Stammheim?

 

Lang anhaltender 68er-Mythos

 

Meinhof ist, wie die zahlreichen Zitate im Buch zeigen, die Einzige, die in ihrer stetig wachsenden linksextremen Sekte einigermaßen schreiben konnte, was gegen Ende ihres Daseins jedoch heftig ins geradezu Infantile abrutscht. Schließlich agierte sie zuvor als linke Journalistin, die hingebungsvoll die wahre Leere von Marx, Lenin, Mao, „Onkel Hồ“ und Che Guevara verkündigte. Das wurde damals als Lehre missverstanden.

Und sie gewann enormen Einfluss in meinungsbildenden Medien wie Spiegeloder Stern. Alle rissen sich, mit hohem Honorar winkend, um Interviews und Verlautbarungen der inhaftierten Gangster, die sich selbst als „Politische“ betrachteten und bald nachhaltig auch in der bundesdeutschen Öffentlichkeit milde bis fasziniert als solche angesehen wurden.

Die nicht prominenten frühen Opfer der Terrorbande hingegen bleiben bis heute unsichtbar. Dem will die Autorin entgegenwirken.

 

Genossen im Osten 

 

Das spätere KPD-Mitglied Meinhof lebte als Kleinkind in Jena. Ihr Vater Werner Meinhof, NSDAP-Parteigenosse, leitete von 1936 bis 1939 das dortige Stadtmuseum, die Göhre, und die NSDAP-Kreiskulturstelle. Hier trug er bei zur Propaganda-Ausstellung „Entartete Kunst“.

Im September 1959 studierte sie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und suchte während ihrer Karriere als Terroristin immer wieder den engen Schulterschluss mit den SED- und FDJ-Genossen, wie das Unterkapitel „Ulrike Meinhof in Ostberlin“ beleuchtet.

Geld und Unterstützung von den ostdeutschen Kommunisten gab es länger schon für die Hamburger Linkspostille „konkret“, an der sie und ihr Mann mitwirkten.

Auch in den nicht ganz so Nahen Osten gab es enge Verbindungen. Bettina Röhl gelingt es, durch umfangreiche Zeitzeugenbefragungen, ein detailreiches Bild dieses Mikrokosmos mit Waffenausbildung, Verrätervernichtung und Sex in der palästinensischen Wüste zu zeichnen.

 

Unterstützer

 

Der umfangreiche Band, zweiter Teil einer Trilogie, hält viele neue Details bereit bzw. ordnet bereits bekannte neu. Er ist in drei Großkapitel unterteilt. Zunächst geht es um den „Höhepunkt 1968“, dann um die „Entstehung der RAF“ und schließlich um den „Mythos Meinhof“. Eingeschoben sind drei Essays, die das Geschehen einordnen und bewerten. Die Betrachtung endet bereits 1974 mit der Verurteilung der sogenannten „ersten Generation“. Mittlerweile haben wir es mit der „letzten Generation“ zu tun, von der mittlerweile aber seltener zu hören ist, „weil sie Kinder bekommen hat“, wie der Kabarettist Dieter Nuhr spöttisch mutmaßt.

 

Das dem ausführlichen Quellenapparat folgende Personenregister ist sehr hilfreich, um fix nachschlagen zu können, wie sich bestimmte Personen der Zeitgeschichte, darunter spätere Politiker in Regierungsverantwortung, wie beispielsweise Otto Schily, Christian Ströbele, Heinrich Hannover, Horst Mahler, Hans Magnus Enzensberger, Heinrich Böll, Ali Hassan Salameh oder Johannes Rau damals so verhielten.

 

Interessant wäre ein Vergleich der Haftverhältnisse der eingefangenen Terroristen mit dem Haftregime in der DDR. Ein grundlegender Unterschied ist dabei schon einmal, dass es sich bei der R.A.F. um gefährliche kriminelle Gewalttäter und bei den im SED-Staat aus tatsächlich politischen Gründen Inhaftierten um rein gewaltlose Andersdenkende handelte, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen. Isolationshaft mit regelmäßigen Anwaltsbesuchen, die auch Diskussionen und Absprachen unter den inhaftierten R.A.F.-Mitgenossen bis hin zu Hungerstreik-Aktionen ermöglichten, Presseerklärungen und Demonstrationen der linksradikalen Unterstützer-Komitees, Bereitstellung von jeglicher Literatur, Zeitungs- und Radioempfang, am Ende sogar Fernsehen - in Hohenschönhausen, Hoheneck, Cottbus, Bützow oder Bautzen Eingekerkerte, deren Widerspruch oder Auswanderungswunsch in der SED-Diktatur zu einer Staatsgefährdung hochstilisiert wurde, wagten nicht einmal davon zu träumen. Auch für solch weiterführende Analysen bietet das geschichtserhellende Buch reichlich Stoff.