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Der moderne Staat

 Foto: Privatarchiv GW



Arnold Vaatz: Vorwort zu Annette Heinisch: Der moderne Staat

 

Vorwort zu Anette Heinischs Buch

Sagt Ihnen der Name Le Bon etwas? Gustave Le Bon? Ihnen bestimmt. Mir bisher nichts. Ich bitte um Nachsicht. Wir hatten ihn nicht im Schulunterricht. Aber jetzt kenne ich ihn, und ich verspreche Ihnen: Er ist atemberaubend aktuell. Er war Arzt. Unter seinen frühesten Kindheitserinnerungen schimmert die Revolution von 1848 hervor, die nach dem Ende des allerletzten Bourbonen, des Bürgerkönigs Louis Philippe, den späteren Diktator Napoleon III. nach oben spülte, er erlebte den Zusammenbruch von dessen aus Größenwahn und Monomanie gebauten Kartenhauses der Macht und sah, wie die vermeintlichen Befreier der Menschheit, die Kommunarden von Paris das Palais des Tuileries und die Bibliothek des Louvre niederbrannten. Anette Heinisch hat ihn für mich ausgegraben und die Welt erklären lassen. Denn die bloße Beschreibung des täglichen Irrsinns, der Herrschaft der Inkompetenz, und des Labyrinths aus ebenso närrischen wie zunehmend gewalttätigen Irrwegen in der deutschen Politik wird allmählich langweilig. Heinisch sagt deshalb nicht mehr nur, dass es so ist. Sie fragt, warum es so ist; und klappt ein riesiges Buch der Geschichte auf. Und siehe: Die menschliche Geschichte ist eine endlose Religionsgeschichte. Und hier kommt Le Bon ins Spiel:

Nicht nur dann ist man religiös, wenn man eine Gottheit anbetet, sondern auch dann, wenn man alle Kräfte seines Geistes, alle Unterwerfung seines Willens … dem Dienst einer Macht … weiht ... .

Mit dem religiösen Gefühl sind gewöhnlich Unduldsamkeit und Fanatismus verbunden. … Die beiden Eigenschaften sind bei allen in einer Gruppe vereinigten Menschen wieder zu finden, wenn irgendein Glaube sie erhebt. Die Jakobiner der Schreckenstage waren ebenso tief religiös wie Katholiken der Inquisition, und ihr grausamer Eifer entsprang der gleichen Quelle.

Die Überzeugung der Massen nimmt die Eigenschaften blinder Unterwerfung, der grausamen Unduldsamkeit und des Bedürfnisses nach Verbreitung an… . Der Held, dem die Masse zujubelt, ist in der Tat ein Gott für sie. Napoleon war es 15 Jahre lang, und keine Gottheit hat eifrigere Anbeter

gehabt; auch sandte keiner die Menschen leichter in den Tod.“

Le Bon starb 90jährig 1931. Er musste nicht mehr erleben, wie die gewaltige Wahrheit seiner Argumentation seinen letzten Satz in diesem Zitat zu einer naiv anmutenden Untertreibung geraten ließ. Anette Heinisch findet ein Wort, mit dem Sie die Funktion der Religionen, deren Marionette der Zeitgeist heute ist, in die Alltagssprache der auf das I-Phon starrenden Generation übersetzt:

„Vereinfacht gesagt ist die Religion sozusagen das Betriebssystem einer Gesellschaft. Mit dieser

Software wird die hardware, also die hard power, gesteuert.“

 

An dieser Stelle will ich einflechten, dass ich selbst ein gläubiger Mensch bin, lutherischer Protestant, mit Einsicht in meine Begrenztheit, mit großem Respekt vor den Leistungen und Lebensentwürfen meiner Vorfahren und stets im Wissen um deren Begrenztheit; aber zugleich ein fröhlicher Nutzer der vier Grundrechenarten und ein faszinierter Untertan der unbestechlichen Naturgesetze. Daher kann ich als Erfahrungstäter zwar von dem wunderbaren Gefühl der Sicherheit reden, wenn man auf den Barrikaden im Kampf der vier Grundrechenarten und der Naturgesetze mit den immer martialischer auftretenden Zeitgeistreligionen steht. Aber wie gruselig das Gemetzel werden wird, zeigt Heinischs Begriff: Es ist ein Aufstand gegen das Betriebssystem. Und die Menschheitsgeschichte desillusioniert hier leider. Der Weg der Inquisitionen von Giordano Bruno bis zu den Leichenbergen des 20. Jahrhunderts deutet nicht auf eine wesentliche Humanisierung der Menschheit hin. Frieden ist nach Heinisch so lange, so lange die Besitzer eines Gartens sich über die Grundzüge der Anlage und die Freiräume jedes Einzelnen von ihnen bei der Gestaltung desselben einig sind. Versucht eine mächtige Eigentümerpartei aber die Dekonstruktion der Anlage zu Lasten aller anderen zu


erzwingen, dann beginnt der Kampf. Noch ist Deutschland in dieser Hinsicht ein Kindergeburtstag, aber die Mienen werden zusehends strenger und das Vokabular schneidender.

 

Anette Heinisch fragt nun mit den Worten des 1968 geborenen kanadischen Anthropologe Joseph Henrich: „Warum haben die westeuropäischen Gesellschaften nach etwa 1500 so viel von der Welt erobert? Warum brach Ende des 18. Jahrhunderts in derselben Region Wirtschaftswachstum aus … und löste die Wellen der Globalisierung aus, die noch heute über die Welt hereinbrechen?“ greift wieder zur vergleichenden Religionsgeschichte und endet im jüdisch-christlichen Gedankenkreis.

Dessen Institutionen mögen abstoßende und teils verbrecherische Auswüchse gehabt, also genau die Hilfsmittel zur Absicherung der Macht der Glaubensverwalter installiert haben, wie sie in den atheistischen, diesseitsbezogenen Zeitgeistreligionen auch festzustellen waren oder gerade im Aufbau sind – in der Bundesrepublik von heute z.B. in Gestalt von staatlich geförderten Denunziationsbüros für neuzeitliche Hexenanzeigen. Aber sie brachte Regeln des Zusammenlebens hervor, die sich als stabil und entwicklungsoffen erwiesen haben.

Dieser Ideenkreis mündete in nichts weniger als in die Aufklärung und mit ihr in die Autorität des analytischen Denkens und das Vertrauen in die Freiheit des Einzelnen und in dessen grundsätzliche Fähigkeit diese Freiheit verantwortlich zu nutzen – sowie das Wissen um die Bedrohtheit dieser Freiheit. Dazu zitiert Anette Heinisch Dietrich Bohoeffer: „Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. Gegen das Böse läßt sich protestieren, es läßt sich bloßstellen, es läßt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurückläßt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. … Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden … und wenn sie unausweichlich sind, können sie einfach als nichtssagende Einzelfälle beiseitegeschoben werden. Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden; ja, er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht … Soviel ist sicher, daß [die Dummheit] nicht wesentlich ein intellektueller, sondern ein menschlicher Defekt ist. Es gibt intellektuell außerordentlich bewegliche Menschen, die dumm sind, und intellektuell sehr Schwerfällige, die alles andere als dumm sind. … [Man gewinnt] weniger den Eindruck, daß die Dummheit ein angeborener Defekt ist, als daß unter bestimmten Umständen die Menschen dumm gemacht werden, bzw. sich dumm machen lassen. … Bei genauerem Zusehen zeigt sich, daß jede starke äußere Machtentfaltung, sei sie politischer oder religiöser Art, einen großen Teil der Menschen mit Dummheit schlägt. … Man spürt es geradezu im Gespräch mit [dem Dummen], daß man es gar nicht mit ihm selbst, mit ihm persönlich, sondern mit über ihn mächtig gewordenen Schlagworten, Parolen etc. zu tun hat. Er ist … in seinem eigenen Wesen mißbraucht, mißhandelt. So zum willenlosen Instrument geworden, wird der Dumme auch zu allem Bösen fähig sein und zugleich unfähig, dies als Böses zu erkennen.“

Ich beendete die Lektüre dieser eigentlich bedrückenden Untersuchung von Annette Heinisch aber mit optimistischen Gefühlen. Erstens macht es froh und dankbar, dass es tapfere Menschen wie Annette Heinisch gibt, die sich trauen, sich dem Wespennest unserer neuen Religionen zu nähern und ihnen den Spiegel der Geschichte vorzuhalten. Zweitens aber belehrt uns die vergleichende Religionsgeschichte auch über die Achillesfersen der Religionen. Zwar haben alle Sekten der Neuzeit die von ihnen prophezeiten und ausgebliebenen Weltuntergänge überlebt – soviel zur Faktenresistenz von echtem Glauben. Aber: Sie sind verwundbar. Einerseits ersticken sie an ihrer inneren Widersprüchlichkeit und Maßlosigkeit wie die Hitlersche und die Stalinsche Religion; oder sie geraten in Krisen, weil ihre Priesterschaft die gepredigten Regeln im gelebte Leben nicht einhielten. So der ungezügelte Hedonismus der Renaissancepäpste, der Luther nach seiner Reise nach Rom 1511/12 zu der Aussage veranlaßte: „Wenn es eine Hölle gibt, dann liegt sie unter Rom“.

Und so die bei Flugreisen erwischten Flugreisen-Gegner. Und manchmal, freilich sehr selten, gehen Religionskrisen auch friedlich über die Bühne. Einmal durfte ich dabei sein. Im Herbst 1989. Ich kann     mich daran gut erinnern.

 


Inhaltsverzeichnis Der moderne Staat:

1. Vorwort - Arnold Vaatz

 

2. Der archimedische Punkt – Arnold Vaatz

 

3. Der moderne Staat – Annette Heinisch

 

4. Nachwort zum modernen Staat – Gunter Weißgerber

 

5. Der moderne Staat und seine Gefährdungen – Gunter Weißgerber

 

6. Rezension der Moskau-Connection – Gunter Weißgerber

 

7. Meinungsfreiheit 2020 – Gunter Weißgerber

Links zum Buch:

https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=der+morderne+staat+heinsich+vaatz