Annette Heinisch
Die Schritte hallten laut in den engen, leeren Gassen. Nur selten sah man einen anderen Menschen in diesem verwinkelten Labyrinth, in dem Google Maps längst seine Orientierung verloren hatte. Ein Müllkarren wurde mühsam einen schmalen Weg bergauf bewegt, ein orthodoxer Priester kam entgegen. Die Geschäfte waren weitgehend geschlossen, denn Kunden gab es so gut wie keine im christlichen Viertel der Altstadt von Jerusalem. Es scheint überhaupt nur noch wenige Christen zu geben, denn sonst würden sich mehr an die Weihnachtsbotschaft erinnern: “Fürchtet euch nicht”.
Aber Furcht ist weit verbreitet, auch weil es das Herrschaftsinstrument der derzeit im Westen Mächtigen ist. Die sogenannten modernen Zeiten treiben “mit Entsetzen Scherz”. Um Schillers Worte aus der Glocke weiter zu zitieren: “Nichts heiliges ist mehr, es lösen sich alle Bande frommer Scheu, der Gute räumt den Platz dem Bösen, und alle Laster walten frey. Gefährlich ist’s den Leu zu wecken, und grimmig ist des Tigers Zahn, jedoch der schrecklichste der Schrecken das ist der Mensch in seinem Wahn. Weh denen, die dem Ewigblinden des Lichtes Himmelsfackel leihn! Sie leuchtet nicht, sie kann nur zünden und äschert Städt’ und Länder ein.”
Genau das kennzeichnete das 20. und das begonnene 21. Jahrhundert. Die Lernkurve verharrt auf der Nulllinie.
Für die wenigen Besucher, die dennoch kommen, ist die Leere natürlich ein großes Geschenk. Wann hat man die Grabeskirche praktisch für sich? In der Zeitschrift National Geographic wird diese in der üblich abgeklärten Weise beschrieben.
“Die Grabeskirche (im Englischen auch als Kirche der Auferstehung bekannt) befindet sich derzeit unter der Obhut von sechs christlichen Sekten. Die drei größten Gruppen – die griechisch-orthodoxe Kirche, die römisch-katholische Kirche und die armenisch-orthodoxe Kirche – haben die primäre Kontrolle über den Ort, während die koptische, äthiopisch-orthodoxe und syrische Gemeinde dort ebenfalls präsent sind. Teile der Kirche gelten als allgemeine Anbetungspunkte für alle Sekten, so auch das Grab. Sie werden durch eine Status-Quo-Vereinbarung reguliert, welche die Zustimmung aller vormundschaftlicher Kirchen benötigt.”
Christen sind also Sektierer, die dort eine Art Heiligtum verehren. Ich vermute, die Muslime, für die der nicht weit entfernte Felsendom eines ihrer Hauptheiligtümer ist, werden eher nicht als Sekte bezeichnet, das könnte ja Konsequenzen haben. Christen jedoch verachtet der moderne Mensch gefahrlos und fühlt sich dabei sogar intellektuell überlegen. Allerdings wird die Kirche im Englischen “Church of the Holy Sepulchre” genannt, was nichts anderes als Kirche des Heiligen Grabes bedeutet, aus dem lateinischen “sepulcrum” für Grab. Tatsächlich sind es die orthodoxen Christen, die sie Auferstehungskirche nennen. Aber egal.
Warum hat die orthodoxe Kirche eigentlich einen so maßgeblichen Einfluss?
Ganz einfach, weil sie die Grabeskirche gebaut und betreut hat. Genauer gesagt war es Helena, die Mutter des römischen Kaisers Konstantin, die den Bau im Jahre 326 n. Chr. anlässlich eines Besuches in Jerusalem in Auftrag gab. Damals war der Ort der Kreuzigung und des Grabes noch bekannt und lokalisierbar. Sie erlebte die Fertigstellung aber nicht mehr, denn die Kirche wurde erst fünf Jahre nach ihrem Tod 335 n. Chr. geweiht.
Unter Konstantin wurde die Christenverfolgung im römischen Reich beendet, später dann privelegierte er das Christentum. 325 n. Chr. berief er das Erste Konzil in Nizäa (heute Isznik, Türkei) ein, um innerchristliche Streitigkeiten beizulegen. Das Bekenntnis von Nicäa ist bis heute das meistanerkannte Bekenntnis im Christentum.
Konstantin errichtete seinen Hof in Byzanz, welches nach seinem Tod 337 n. Chr. in Konstantinopel (heute Istanbul) umbenannt wurde. Nach der späteren Teilung des Reiches in das west – und oströmische Reich (395 n. Chr.) war das Byzantinische das christliche Reich.
Das oströmische, christliche Reich sollte noch fast 1000 Jahre länger bestehen bleiben als das westliche. Erst 1453 unterlag es den islamischen Osmanen.
Daher ist historisch nachvollziehbar, dass und warum die orthodoxe Kirche als Erbauer und Bewahrer eine so große Rolle spielt.
Als der Prophet Mohammed 620 n. Chr. nach Jerusalem kam, gab es die Grabeskirche also seit rund 300 Jahren. Allerdings nicht in der heutigen Gestalt, nur wenige Originalbereiche sind noch erhalten. Ein persischer Herrscher erorberte im Jahre 614 das zu Byzanz gehörende Jerusalem. Dabei wurde die Grabeskirche durch ein Feuer beschädigt und das heilige Kreuz für einige Zeit verschleppt. In der Folgezeit wurden Juden und Christen verfolgt, Synagogen und Kirchen zerstört. Es gab mehrere Anschläge auf die Grabeskirche, am 18. Oktober 1009 wurde sie durch den Kalif Al-Hakim zerstört, indem Feuer gelegt und der brüchig gewordene Stein abgebrochen wurde. Zuvor war das Grab Jesu noch weitgehend intakt. Dies rief natürlich große Empörung bei den Christen hervor. Für christliche Pilger war auch danach der Aufenthalt in Jerusalem gefährlich. “Das langwährende Trauma der Schändung der Heiligen Stätten bereitete im Abendland den Boden für die schließlich aufbrechende Kreuzzugsstimmung, die durch den Hilferuf des bedrängten Byzanz ausgelöst wurde.”
Mit dem 1. Kreuzzug Im Juli 1099, also fast 90 Jahre nach der Kirchenschändung, wurde Jerusalem dann von den Christen zurückerobert.
Die Grabeskirche, die man heute sieht, ist teilweise die nach der Zerstörung zwischen 1009 und 1055 wieder aufgebaute Kirche, teilweise die später von den Kreuzfahrern errichtete. Einen ersten Eindruck kann man durch eine virtuelle Tour bekommen.
Nicht nur das Alter des Gebäudes, auch der fremd anmutende Innenschmuck sind wirklich beeindruckend.
Die Altstadt umfasst natürlich deutlich mehr als nur das christliche Viertel, hinzu kommen das armenische, arabische und das jüdische Viertel. Auf dem Gipfel des Tempelberges, einem Plateau, befanden sich einst jüdische Tempel. Der erste Tempel, auch Salomonischer Tempel genannt, war das Hauptheiligtum des Königreichs Juda. Er wurde 587/586 v. Chr. durch die Neubabylonier bei der Besetzung Jerusalems zerstört. Die jüdische Bevölkerung geriet in babylonische Gefangenschaft. Nach deren Ende wurde um 515. v. Chr. an derselben Stelle ein neuer Tempel erbaut, der von den Römern bei der Eroberung Jerusalems 70 n. Chr. geplündert, in Brand gesetzt und zerstört wurde. Teile der alten Umfassungsmauer sind noch vorhanden, ein Mauerabschnitt der westlichen Mauer ist heute das Hauptheiligtum der Juden, im Deutschen als Klagemauer bekannt. Sie liegt am Fuße des Tempelbergs, der seit 691 n. Chr. vom islamischen Felsendom mit seiner goldenen Kuppel dominiert wird.
Das Bild der unten im Tal vor einer einfachen Mauer betenden Juden, der Eingang zum Heiligtum durch Einlasskontrollen gesichert, darüber thronend der prächtig goldglänzende Felsendom, sagt mehr als tausend Worte.
Warum Israel, warum Jerusalem?
Nicht selten wurde ich gefragt, warum man überhaupt nach Israel und Jerusalem reisen sollte.
Dafür gibt es zahlreiche Gründe:
Egal, ob man religiös ist oder nicht, Jerusalem ist der Ursprung der abendländischen Identität.
Keine Kultur fällt einfach vom Himmel. Unsere Kultur ist unbestreitbar eine Hochkultur, viele Erfahrungen waren nötig, bis sie den heutigen Stand erreicht hat (und nun leider zu kippen beginnt). Für das Entstehen von Kulturen sind verschiedene Einflussfaktoren maßgebend. Die Religion, welche die prägenden Werte bestimmt, ist dabei ein ganz wesentlicher Einfluss.
Wer die Geschichte und die Wurzeln des Abendlandes nicht kennt, fällt leicht auf Sätze wie “Der Islam gehört zu Deutschland” herein. Tatsächlich bekämpft der Islam als solcher während seiner gesamten Geschichte bis heute das jüdisch-christliche Abendland.
Offensichtlich wird die Geschichtsblindheit angeblich aufgeklärter “Eliten”, betrachtet man die Aufregung um die Besetzung der Rolle Marias im Netflix – Drama “Maria” mit der Israelin Noa Cohen. Ich las das völlig befremdet noch während des Aufenthalts in Jerusalem, zunächst verstand ich das Problem nicht einmal. Natürlich war Maria jüdisch, ebenso wie Jesus. Aber die Entfremdung von unseren Wurzeln führt zu dermaßen abwegigen Äußerungen wie “Jesus war ein palästinensischer Mann”. Und vermutlich war Maria eine woke muslimische Transfrau!
In Israel erlebt man auch eine grundsätzlich andere Lebenseinstellung als in Deutschland. Es ist selbstverständlich, dass man sein Land und seine Leute verteidigt. Selbst die junge und noch vor kurzem als verweichlicht angesehene Generation hat sich grandios bewiesen.
Israel musste das Schicksal, angegriffen zu werden und Krieg führen zu müssen, oft erleiden. Die Versuche, Land gegen Frieden zu tauschen, schlugen meist fehl. Übrigens ist es erstaunlich, dass trotz des Beweises des Misslingens so viele Menschen meinen, dass man Frieden kaufen könne. Für Juden weltweit ist der jüdische Staat Israel ihre letzte, “unaufgebbare” Zuflucht. Sie haben erfahren, dass sie um ihre Existenz, ihr Überleben kämpfen müssen, gegen alle Widerstände.
In unserer Welt hingegen sind Wehleidigkeit und Hysterie en vogue, schon die Nutzung eines falschen Pronomens wird als unerträglich angesehen. Aber so richtig “in echt” kämpfen? Nein, danke. Dann packt man lieber die Koffer und zieht weg.
In Israel sind Waffen im Alltag präsent, in Jerusalem noch mehr als in Tel Aviv. Damit meine ich nicht Soldaten auf dem Weg zum Dienst oder Polizisten, sondern normale Zivilisten. Selbst junge Mütter mit Kinderwagen tragen eine Maschinenpistole – und sie können damit umgehen! Nach deutscher Logik müsste das fatal sein, denn nicht etwas Menschen, sondern Waffen gelten per se als böse. In Israel zeigt sich, dass diese Überzeugung irrig ist. Tatsächlich erhöhen all die Menschen, die bewaffnet sind, das Gefühl der Sicherheit: Jeder weiß, dass ein Terrorist nicht weit käme. Das beruhigt durchaus.
Israel ist der Staat der Juden und zugleich ein jüdischer, also ein religiöser Staat. Nach moderner Lesart mithin völlig hinter dem Mond und total intolerant. Tatsächlich ist Israel sowohl wissenschaftlich wie auch wirtschaftlich erfolgreich und selten habe ich eine so “bunte”, tolerante und freie Bevölkerung gesehen wie dort. Der Glaube als Bindeglied macht stark, all die propagierten Schattenseiten von Religion sind schlicht nicht vorhanden.
Israel scheint wirklich nahezu alle hier als sakrosankt geltenden Überzeugungen zu widerlegen.
Übrigens noch ein Unterschied: Trotz der schwierigen Lage gibt es in Israel viele Kinder, das Land ist das einzige westliche Land, das nicht unter Bevölkerungsschwund leidet. Bemerkenswert, oder?
Eine Reise nach Israel und insbesondere nach Jerusalem ist also mehr als nur interessant: Sie ist inspirierend.
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