Gerold Hildebrand
Unter Anderen
Ein Rockbandchef in SED-Gefängnissen
Knastjargon und Zwangsarbeit
Mumpe, Bello, Spanner, Pritscher, Krimi, BVer, Ost-Stich, piken, Ufos, aufjucken, Brotwein. Was bedeutet das alles? Das können eigentlich nur ehemalige Gefangene der Kommunisten in der DDR wissen. In Cottbus mussten sie „schnitzen“ für Pentacon. Deswegen konnten die Fotoapparate aus der Ostzone so billig im Westen angeboten werden. Dumpingpreise, die Thilo Sarrazin zu der nicht unbegründeten Annahme verleiteten, dass ein solcher Staat ökonomisch bald ans Ende gelangen müsse. So äußerte er sich einmal bei einer Veranstaltung in den 90ern. Der Hintergrund war allerdings ein damals in der Bundesrepublik noch weitgehend unbekannter: Haftzwangsarbeit.
Was hat es mit dem „Genickschuss-Barkas“ und dem „versandfertigmachen“ auf sich? Welche Ängste wurden hier gestreut? Aufschluss über diese Dinge gibt die autobiografisch angelegte Erzählung „Stasi-Knast“.
Haftkameraden
Dietrich Kessler hat als begnadeter Zuhörer nach Jahren eine kurze Sozialstudie über seine Haftkameraden geschrieben.
Hauptsächlich waren das Arbeiter - und die hatten mit der Unfreiheit im vermeintlichen „Arbeiter- und Bauernstaat“ gründlich abgeschlossen, wollten nur noch raus. Das im Buch dokumentierte „Cottbus-Lied“ spricht Bände. Zumeist waren unter den Eingepferchten aufrechte Antikommunisten, die es später im Westen mit den Linken nicht leicht hatten, die keine kommunistische Diktatur erleben mussten. Aber unter den Mitgefangenen gab es auch posende und eingefleischte Neo-Nationalsozialisten, die sich in der Zelle gern als „Sturmbannführer“ anreden lassen wollten und die das rassistische Südafrika lockte. Auf einer Karte von anderen glücklich in die Bundesrepublik Gelangten hieß es: „Im Westen gibt es nicht alles, es gibt noch viel mehr!“ (215). Ja, Freiheit und Pluralismus heißt die heiße Ware, inklusive widerlicher Demokratiefeinde, denen aber - theoretisch - mit rechtsstaatlichen Mitteln Grenzen gesetzt werden können, sobald sie die freiheitlich-demokratische Grundordnung abschaffen wollen. Auch wenn der antitotalitäre Konsens vielleicht nicht immer sofort strikte Beachtung erfährt.
Durch seine Empathie gelingt dem Autor, studierter Germanist und Musikwissenschaftler, eine nahe gehende episodenhafte Darstellung von Schicksalen und Widerfahrnissen, die typisch für im SED-Staat Unangepasste, Eigensinnige und Andersdenkende waren. Sie kündet vornehmlich von verzweifelten waghalsigen Fluchtversuchen, die grausam scheiterten. Manch „hartnäckiger Übersiedlungsersuchender“ geriet wegen Nichtigkeiten in die Fänge des Staatssicherheitsdienstes (SSD).
Auch dass Charaktere differieren und extreme Belastungen von Betroffenen unterschiedlich verarbeitet und zum Ausdruck gebracht werden, kommt zur Sprache. Wer schlimmer als ein Tier eingesperrt wird, kann zum Tier werden.
Diese Passagen, obwohl recht nüchtern erzählt, sind die aufwühlendsten und schwer aushaltbar. Das kann auch einen Rock 'n' Roller schwer erschüttern.
Die Schließer und Knastoffiziere charakterisiert der heutige Musikverleger (3D-Verlag) ebenso ohne zu pauschalisieren:
RT („Roter Terror“ - Obermeister Hubert Schulze), „Arafat“ (Horst Jahn), der Würger „Texas“, „Stalin“, „Lollo“ (Lehmann) wurden sie heimlich von den Insassen der Bautzener Straße 140 in Cottbus genannt.
https://www.welt.de/print-welt/article508611/Walter-S-ein-braver-unauffaelliger-Schlaeger.html
Auch der Stasi-Knast in Dresden liegt an einer Bautzener Straße.
Unfassbar, was Menschen Menschen antun. Und das auch noch unter dem Versprechen ewiger Glückseligkeit im Sozialismus. Aber das Credo von Linksextremisten an der Macht lautet schlicht: Feinde sind zu vernichten, zu liquidieren.
Lebensumstände
Immer wieder eingeflochten in Dietrich Kesslers Erinnerungen sind allgemeinere Betrachtungen über das Leben unter der SED-Herrschaft und der kommunistischen Ideologie. Dabei erweist sich der Autor nicht nur als belesen, wenn er Reminiszenzen an Hannah Arendt über George Orwell und Alexander Solschenizyn bis hin zu Konrad Löw und André Glucksmann in seine Erzählung einbettet. Seine Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur ist vor allem erfahrungsgestützt.
Nebenher gewährt der fast 300seitige Band erhellende Einblicke in die damaligen Bedingungen unter denen Rockbands arbeiten mussten. Backstage auf sozialistisch sozusagen.
Auch bei Hilfeersuchen an die evangelische Kirche geriet die Band ausgerechnet an den dazumal unerkannt als Offizier im besonderen Einsatz (OibE) für den Staatssicherheitsdienst arbeitenden Oberkirchenrat Detlef Hammer.
Aber warum?
Aber warum geriet Kessler mit seiner Frau und seinem 2020 verstorbenen Bandkollegen Achim Kneis 1982 in Haft? Kritische Texte hatten sie ja gar nicht gesungen, nur die Fragen gestellt: „Was wird morgen sein? Bau'n wir nur auf Sand? Hau'n wir uns in Stein?“
Die Rockband „Magdeburg“, bis 1975 „Klosterbrüder“, hatte Ende 1981 schlicht die Nase voll von all den Gängelungen und nicht gewährten Bürgerrechten und stellte kollektiv einen Ausreiseantrag. Das konnte als „staatsfeindliche Gruppenbildung“ gewertet werden. Das unrechtsstaatliche Urteil (zweieinhalb Jahre) gründete sich dann auf den wenige Jahre zuvor neu eingeführten Paragraphen 100: Staatsfeindliche Verbindungsaufnahme. Kontakte in die Bundesrepublik wurden somit kriminalisiert. Das waren dann auch die Telefonate mit seinem in den Westen geflüchteten Bruder - und nunmehrigem Schlagzeuger bei Herbert Grönemeier - Detlef Kessler. Die Rache der Genossen.
In der Urteilsbegründung wird dem Delinquenten zudem vorgeworfen, er wäre an einem kommenden Atomkrieg schuld. Leider kein absurdes Theater sondern reale, sozialistische Paranoia.
Wesentlichster Hintergrund der Hatz aber ist der Umstand, dass der wirtschaftlich klamme SED-Staat rasch und skrupellos Devisen erwirtschaften wollte mit dem Verkauf der Landeskinder. Der Freikauf funktionierte nur bei zuvor Eingesperrten. Doch was bedeutete das für diese?
Für Kessler die ganze Palette: langjährige Stasi-Bespitzelung, Verunsicherungen, Verhöre, geheimpolizeiliche Wohnungseinbrüche, Anwerbungsversuche, Stasi-Untersuchungshaft in Magdeburg, volkspolizeiliche Untersuchungshaft für Kriminelle (inklusive weiterer Stasi-Verhöre), Strafvollzug im Zuchthaus Cottbus und Abschiebeknast Kaßberg in Karl-Chemnitz. Und die bange Frage: Was ist mit meinem 13jährigen Sohn geschehen als Vater und Mutter abgeholt wurden?
Ohne die von ihm gewürdigten starken Frauen an seiner Seite, vor allem seine Frau und ihre Schwestern, wäre manches kaum durchzustehen gewesen.
Empfehlungen
Nachvollziehbar zu machen, wie es den Inhaftierten in der DDR erging - und nicht nur den aus politischen Gründen Weggesperrten - das ist Dietrich Kessler gelungen. Allen Vor- und Nachgeborenen aber auch den leider noch vorhandenen ostdeutschtümelnden Verklärern aus den links- und rechtsextremen Schmuddelecken der Republik sei das mit schlappen 16 Euronen geradezu als Schnäppchen zu bezeichnende Buch wärmstens empfohlen. Auch wenn der geradlinige Norddeutsche (Kessler wuchs im ostdeutschen Sperrgebiet nahe Lübeck auf) nun überhaupt keinen Bock auf die Machtbeteiligung Letzterer hat.
Das Buch hat viele noch immer unbequeme Wahrheiten für manche, die blind durch die DDR geschlichen sind, durchaus in Stein gemeißelt. Auf Sand gebaut ist es jedenfalls nicht. Dazu ist es einfach zu ehrlich und mit Herzblut geschrieben.
Eine erste Fassung des Werks erschien bereits 2001 im Selbstverlag. Da hießen SED-Linkspartei und BSW noch PDS.
Nachklapp
Beeindruckend ist übrigens auch die musikalisch umrahmte Lesereise „Stasi-Knast und Ostseeflucht“, vornehmlich an einstigen Orten der Repression, mit Dietrich Kessler an Saxophon und Querflöte, Eberhard Klunker an der Akustik-Gitarre und Hartmut Rüffert an der Stimme. Und wenn wie am 9. November 2024 wieder Heide Schinowsky, die Leiterin der Gedenkstätte Cottbus, an der Querflöte einsteigt, wird das Ganze dann auch noch zum frenetisch bejubelten Quartett.
Dass die Klosterbrüder einmal bei einem Fasching in Mönchskutten und mit einem Sarg die Bühne betraten, geriet zum Mythos. Jeder Tramper hatte von Kap Arkona bis zum Fichtelberg davon gehört. Dafür dass die Band diese Show damals nicht wiederholte, gab es unter den Kunden die Vermutung: „Das haben denen die autoritären Kulturpäpste verboten!“ Das war ein Gerücht.
DDR-Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann verfügte allerdings 1981: „Die Gruppe Magdeburg muss zerschlagen werden.“ Das gelang ihm dank der Friedlichen Revolution nur zeitweilig. Doch was wird morgen sein?
2017 spielten die Klosterbrüder übrigens im Hof der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.
https://www.facebook.com/watch/live/?ref=watch_permalink&v=1457961294287184
(Der Ton funktioniert noch immer nicht)
Klosterbrüder - Was wird morgen sein?
https://www.youtube.com/watch?v=a0RpVECRVOI
https://www.youtube.com/watch?v=ai8a1MmtoKw
Zugaben, die es in sich haben
Klosterbrüder mit Christiane Ufholz & Hans die Geige - Stormy Monday
https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=SciIHSxkamc
Klosterbrüder & Christiane Ufholz - Hoochie Coochie Man
https://www.youtube.com/watch?v=fCfCmM7ujMo
Klosterbrüder & Hans-Jürgen Beyer
https://www.youtube.com/watch?v=u0qqFhnxS2U
Die Klosterbrüder am 14. Mai 2022 im EKM Meerane
https://www.youtube.com/watch?v=-5ZyYAZaY_Y
Gerold Hildebrand rezensiert
Dietrich Kessler:
Stasi-Knast. Engelsdorfer Verlag,
erweiterte Auflage 2024. ISBN 978-3-96940-717-2
engelsdorfer-verlag