Erfahrungsbericht von Hartmut Richter
Nach jahrelanger Einzelhaft teilte ich hier bis Ende September 1980 mit
zwei West-Berlinern eine Zelle, nach Terminologie des MdI und MfS einen Verwahrraum. Am 4. März 1975 bin ich beim Versuch, meine Schwester und deren Verlobten in meinem Kofferraum
nach West-Berlin zu bringen, erwischt worden. In der alten Bundesrepublik wäre dies wohl als Ordnungswidrigkeit geahndet worden. Die Büttel des MfS sahen dies anders. Sie nannten
diese Fluchthilfe „staatsfeindlicher Menschenhandel zum Zwecke, die DDR zu schädigen“. Menschenhandel betrieb eigentlich das SED-Regime. 3,4 Mrd. DM kassierte das Regime von der alten
Bundesrepublik, um Menschen wie mich und auch ihre Leibeigenen vorzeitig in den Westen zu entlassen, dem Klassenfeind zu verkaufen. Keine kommerzielle, meist ohnehin von der Stasi unterwanderte
Fluchthilfeorganisation, kassierte annähernd so viel. Im Namen des Volkes unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu 15 Jahren Zuchthaus, genannt „Freiheitsentzug“, verurteilt, verbrachte ich etwa 18
Monate im Zuchthaus Rummelsburg. Strafvollzugseinrichtung, abgekürzt StVE, nannten sie die Zuchthäuser und die Strafe einen „Erziehungsprozess“. Nach mehreren Versuchen, meinen Widerstand zu
brechen, insgesamt drei Zwangsernährungsmaßnahmen im Haftkrankenhaus Meusdorf bei Leipzig, ließen sie von mir ab. Für meine Leiche hätte es wohl auch keine Devisen gegeben, abgesehen
von anderen diplomatischen Unannehmlichkeiten.
Ab 1974 gestand das SED-Regime inhaftierten Ausländern eine
diplomatische Betreuung zu. Für jedes Zugeständnis zahlte die alte Bundesrepublik natürlich, wie man sich schon damals denken konnte. Thematisiert wurde auch dies erst nach der Implosion des
Sowjetimperiums. So wurde, um die „Wandel durch Annäherung“ genannte Politik nicht zu gefährden, im Westen das SED-Regime eher weichgezeichnet, was ja dann nach 1990 mit einer „Wandel durch
Handel“ genannten Politik weiterging. Noch heute profitieren alte Genossen von Unwissenheit über stalinistisch-
West-Berlin wurde als „selbstständige politische Einheit“ gesehen. So
wurden inhaftierte West-Berliner nicht nach Gießen, sondern nach West-Berlin entlassen.
Hier in Karl-Marx-Stadt, Kalle Malle oder Kalle Malle Town genannt, begann ich
wieder zu rauchen. Bei Verhören, Vernehmung genannt, durfte ich meine bei Transitfahrten im Intershop günstig gekauften Zigaretten rauchen. In der Zelle rauchen zu dürfen, galt als Vergünstigung.
Vergünstigungen wurden vom Vernehmer gewöhnlich gewährt, wenn man sich „kooperativ“ verhielt. Da ich dazu überhaupt nicht bereit war, gewährte man mir nichts über die Grundversorgung hinaus.
Bekam ich nach mitunter wochenlanger Isolation, ständigen intensivsten Lichtkontrollen einen Leidensgefährten, einen Mitgefangenen, der Vergünstigungen hatte, die ich nie hatte, war mir klar,
dass ich mir überlegen sollte, was ich dem mitteile. Am liebsten nutzte die Stasi wohl Menschen, die aus ideologischer Überzeugung für sie spitzeln. So konnte ein hauptamtlicher Mitarbeiter des
MfS, der betrunken beim Autofahren erwischt wird, sofort als Spitzel, Zelleninformator (ZI) genannt, eingesetzt werden. Gesetzesbrechern, denen Vergünstigungen wie eventuell vorzeitige Entlassung
versprochen oder im Haftalltag das Rauchen in der Zelle, Leseerlaubnis gestattet wurden, sollten durch Suggerieren eines Schuldkomplexes zu Spitzeln werden. Mit zwei aus dem Zuchthaus Rummelsburg
zum Kassberg transportierten West-Berliner Gesetzesbrechern teilte ich also die Zelle. Sie rauchten unentwegt, sodass auch ich, die Entlassung vermutend, leider wieder zu rauchen begann. In einem
Barkas 1000, auf dem „Obst und Gemüse“ stand, wurden wir dann zum Stasiuntersuchungsgefängnis Magdalenenstraße, „Magdalena“, transportiert. „Wir bekommen sie auch im Westen, Richter, unser Arm
ist lang“, drohten sie zum Abschied. Am 2. Oktober 1980 war also nach 5 Jahren und 7 Monaten Haft mein „Erziehungsprozess“ abgeschlossen – übrigens an Mahatma Gandhi’s Geburtstag.
Mahatma Gandhi war schon als Jugendlicher, als ich in einem sozialistischen Internat lebte, mein Vorbild. Hätten sie mich beim heimlichen Lesen auch der Bücher von Erik Blair, alias George Orwell, erwischt, wäre ich als gegenüber dem Sozialismus feindlich eingestellter Jugendlicher und Nichtmitglied der FDJ sicher in einem Jugendwerkhof gelandet.
So kam ich nach meiner ersten Flucht Ende August 1966 durch den Teltowkanal schließlich ein zweites Mal in den Westen. An die Empfehlungen des in Untervollmacht des Anwaltes Wolfgang Vogel handelnden Rechtsanwaltes Hartmann, der mich nach West-Berlin brachte und aufforderte, über das Geschehene zu schweigen, hielt ich mich nicht. Normalerweise hätten alle aus den Gefängnissen der Stasi freigekauften Personen therapiert werden müssen. Leider geschah dies halbherzig erst nach der friedlichen Revolution, als keine Rücksichten auf die Politik des „Wandels durch Annäherung“ mehr genommen werden mussten. Die Strafe wurde annulliert; es gab eine geringe Entschädigung für erlittenes Unrecht, eventuell eine Kur.
Das uns zugefügte Unrecht sollte damals aber bitte nicht thematisiert werden, da es doch den komplizierten Prozess des Wandels durch Annäherung, die Entspannungspolitik, belastet hätte. So verdrängten die meisten Betroffenen dies, was sicher nicht richtig war und eher weiter traumatisierte. Folgten Betroffene der Empfehlung, den Mund zu halten nicht, protestierten sie gar gegen Menschenrechtsverletzungen im Ostblock, wurden diese oft als Entspannungsfeinde, Reaktionäre und gar Faschisten beschimpft, von Personen, die glaubten, eine fortschrittliche Weltsicht zu haben.