Annette Heinisch
Geht es Ihnen auch so, dass Sie Menschen für besonders klug halten, die Ihre Ansichten teilen? Mir jedenfalls geht es so, deshalb finde ich Rory Stewart hochintelligent.
Kürzlich besuchte der ehemalige britische Spitzenpolitiker die Podcaster Konstantin Kisin und Francis Foster in ihrem höchst sehenswerten Format „Triggernometry“. In dem Gespräch war Kernaussage Stewarts “We’re living in a world of fairy tales” (Wir leben in einer Welt der Märchen). Er erläuterte, dass die Politik in Großbritannien unter strukturellen Problemen leide. Nach seiner Ansicht würde sich deshalb durch Wahlen nicht viel ändern und schon gar nichts bessern, eben weil strukturelle Probleme jeder wirklichen Änderung im Wege stünden – eine Situation, die auch in anderen Ländern Europas ähnlich ist.
Als Beispiel zeigte er auf, dass die Wohnungsnot in Großbritannien nicht gelindert werden könne, weil zu viele und dabei divergierende, sich teils gegenseitig ausschließende Ziele verfolgt würden. Dieses veranschaulichte er an weiteren Beispielen. Selbst die intelligentesten der Intelligenten, die mit der Lösung von Problemen befasst worden seien, hätten unter den herrschenden Bedingungen versagt.
Tatsächlich klangen seine Beispiele, als seien sie Dietrich Dörners Buch „Logik des Misslingens - Strategisches Denken in komplexen Situationen” entnommen: Methoden und Herangehensweisen, die mit Sicherheit zum Scheitern führen.
Das Hauptproblem ist aus seiner Sicht die Illusion, alles haben zu können ohne dafür einen Preis zahlen zu müssen. Dies sei fern der Realität, funktioniere nicht. Man könne z. B. den work – life – balance Ansatz verfolgen, dafür habe er durchaus Verständnis. Nur Höchstleistungen seien dann kaum möglich. Es gehe nicht alles und nicht zugleich, alles habe seinen Preis. Dieses müsse man den Bürgern ehrlich sagen und keine Märchen erzählen.
Kommt dem Bundesbürger bekannt vor, oder? Wir wissen ja, die Energiewende kostet angeblich nur eine Kugel Eis, natürlich floriert die Wirtschaft mit grüner Politik, der Sozialstaat ist bezahlbar und die Migration eine Bereicherung – die Liste der Märchen ließe sich leicht fortsetzen.
Das Versagen, das Versagen anzuerkennen
In seinem kürzlich erschienenen Buch „Politics On the Edge“ beschreibt Stewart ebenfalls Phänomene, die identisch mit denen in der deutschen Politik sind:
„Beim Regieren ging es vielleicht um kritisches Denken, beim neuen Politikstil … jedoch nicht. Wenn kritisches Denken Selbstbewusstsein erforderte, verlangte diese Politik absolutes Vertrauen. Anstelle der Realität bot es eine grenzenlose Hoffnung; statt Genauigkeit Unbestimmtheit. Während kritisches Denken Skepsis, Aufgeschlossenheit und ein Gespür für Komplexität erforderte, verlangte die neue Politik Loyalität, Parteilichkeit und Slogans: nicht Wahrheit und Vernunft, sondern Macht und Manipulation.“
Zur Verdeutlichung eine kleine Auswahl seiner Beobachtungen:
- Er schildert die Demokratie als ausgehöhlt, bezeichnet sie als gewählte Diktatur. Das Parlament sei kein Wachhund, vielmehr vergleicht er es mit einem ältlichen Labrador, der vor dem wärmenden Feuer eingeschlafen sei. Freie Gewissensentscheidungen der Abgeordneten würden nur in vereinzelten Ausnahmefällen vom Fraktionsvorsitzenden (im UK den Whips) zugelassen. Es würde strikte Loyalität gegenüber der Partei verlangt.
- Die neue Politik, verstärkt beim Brexit, agiere mit Lügen und einfacher Sprache. Er wirft ihr Unernsthaftigkeit des Denkens vor, welches die Konsequenzen des Handelns nicht hinreichend bedenke.
- Obgleich die Politik die schwierigste Profession sei, sei die Kandidatenauswahl völlig unzureichend; wer gut darin sei, Werbeprospekte zu verteilen und Parteiarbeit zu machen, hätte die besten Chancen. Stewart zeigt in einem Bereich seiner früheren Tätigkeit als Minister für Gefängnisse auf, wie man Charakter und Führungsstärke erlernen und trainieren kann.
- Unter verschiedenen Aspekten beleuchtet er das Unvermögen der Politik, wirklich zielführend zu handeln. Als Gründe nennt er z. B. „erlernte Hilflosigkeit“, blinden Aktionismus („an absence, which pretended to be a presence“) sowie den Drang, große abstrakte Programme zu entwerfen statt grundlegende Verbesserungen umzusetzen; er fordert praktische Veränderungen statt großer, leerer Versprechen, die an der Realität scheitern.
Besonders bemerkenswert ist folgender Satz: „Das Auffälligste war nicht das Versagen, sondern das Versagen unser Versagen anzuerkennen.“ („Most striking was not the failure but the failure to acknowledge our failure.”)
Diese Aussage bezog sich auf das Vorgehen der Briten im Irak, aber sie ist m. E. anwendbar auf die gesamte Politik: Das Versagen, die Märchenpolitik als Versagen anzuerkennen und zwar sowohl in Großbritannien als auch bei uns.
Das ist ein entscheidender Punkt: Alle Feststellungen treffen auf Deutschland ebenso zu, obgleich unser demokratisches System deutlich anders ausgestaltet ist. Ob es das Wahlrecht betrifft (Mehrheits – gegenüber Verhältniswahlrecht), ob die staatliche Verfasstheit als Zentralstaat im Gegensatz zu unserem föderalen Aufbau, ob es ein Staat mit oder ohne geschriebene Verfassung ist: Alles das sowie die zahlreichen, sonstigen Unterschiede sind anscheinend irrelevant. Im Kern sind die (Fehl-)Entwicklungen identisch. Wer also die politischen Verhältnisse verbessern möchte, sollte nicht an diesen systemischen Faktoren ansetzen, denn diese scheiden als Ursache aus.
Das ist doch immerhin ein wesentlicher Erkenntnisgewinn.
Wege aus der Knechtschaft
Ulf Poschardt, Chefredakteur der Welt, fasste es so schön in einem Satz zusammen: “Der Westen hat sich im Kulturkampf selbst zerlegt – doch die Lernkurve der alten Eliten bleibt flach.”
Sehr treffend hat Thilo Sarrazin festgestellt:
“Für die meisten Menschen sind Sicherheit für sich und die eigene Familie sowie materielles Wohlergehen weitaus wichtiger als Meinungsfreiheit und Demokratie. Deshalb befindet sich das westliche Modell in einem Systemwettbewerb mit autoritären Strukturen. Diejenigen, die die Klügsten und Besten an die Schalthebel der Macht bringen, werden langfristig auch im Systemwettbewerb überlegen sein.”
Die Auswahl der Klügsten und Besten ist auch nach den Darstellungen von Rory Stewart ein Kernproblem, d. h. dies ist eine entscheidende Weichenstellung.
Also muss man versuchen, die Klügsten und Besten an die Schalthebel der Macht zu bekommen, wobei noch festgestellt werden müsste, wer in diesem Sinne “die Besten” sind. Die, die am lautesten schreien, sich am besten verkaufen können, sicherlich nicht. Wer aber dann? Welche Voraussetzungen an Charakter und Führungsstärke sind notwendig, wie kann man sie trainieren? Ein Austausch mit Rory Stewart könnte hilfreich sein. Alles das sind praktische Fragen, die man beantworten und dann entsprechend umsetzen kann.
Wenn die westlichen Systeme derart ideologisch überladen sind, dass selbst die begabtesten nicht mehr mit ihnen umgehen können, wie Rory Stewart ausführt, dann muss man sie vereinfachen und zwar dringend.
Die westlichen Systeme sind ideologisch überladen, weil die Parteien sich auf dem politischen Markt mit Werbeversprechen durchsetzen müssen und daher schlicht Märchen erzählen. Sie verkaufen den Bürgern den Himmel auf Erden, obgleich – und das kann man auch bei Dietrich Dörner nachlesen – der Versuch, diesen zu schaffen unweigerlich in der Hölle endet.
Was erkennbar langfristig nicht funktioniert, ist also das Märchenerzählen. Die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher hat im Jahr 2000 eine Rede über Freiheit gehalten, in der sie ausführte:
„Beginnend mit der Französischen Revolution und dann stark gefördert durch die bolschewistische Revolution wurde die Neuzeit von „-ismen“, also von Ideologien, faktisch säkularen Religionen, geplagt. Die meisten von ihnen waren unerträglich schlecht.“
Diese säkularen Religionen haben weit über 100 Millionen Tote auf dem Gewissen. Die Toten sind die Folgen dieser Märchen, die man den Menschen erzählte. Sie sind so fatal, weil das Gegengewicht fehlt: Es gibt gerade keine Trennung von Kirche und Staat, der Staat ist die Kirche. Damit ist es per definitionem ein totalitäres System, welches das Gegenteil von dem ist, was den Westen groß machte.
Was man mit diesen säkularen Religionen nicht erreicht, ist exakt das, was man verspricht: Wohlstand und Sicherheit. Diese gibt es nur in freien Gesellschaften, in denen sich der Staat auf seine Kernaufgaben beschränkt und damit seine Macht begrenzt ist. Der argentinische Staatspräsident Javier Milei zeigt sich aus gutem Grund mit der Kettensäge, denn ohne dass die Staatsaufgaben so zurecht gestutzt werden, dass sie zumindest für Intelligente handhabbar werden, wird man nicht aus der Misere kommen.
Das ist hart und mutet den Bürgern vieles zu. Es ist fernab von Märchen und Werbeversprechen. Aber der Weg, der nachweislich zielführend ist, ist selten der leichte.