Annette Heinisch
Die Neue Juristische Wochenschrift (NJW) ist die auflagenstärkste Zeitschrift für die juristische Theorie und Praxis in Deutschland. Sie ist aber nicht nur wegen der Höhe ihrer Auflage wichtig, sondern speziell aufgrund der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen und Artikeln von allgemeiner juristischer Bedeutung.
Im diesjährigen Heft 31 findet sich auf S. 2231 ff. ein hochinteressanter Aufsatz, mit dem die juristische Corona – Aufarbeitung in eine neue Phase tritt. Das Thema lautet „Ärztliche Aufklärung bei Behandlungen mit bedingt zugelassenen mRNA- Impfarzneien“. Autoren sind der Fachanwalt für Medizinrecht und stellvertretende Vorsitzende im 2. Senat des Anwaltsgerichtshofs Nordrhein – Westfalen Carlos A. Gebauer und die Inhaberin des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Regensburg Prof. Dr. Katrin Gierhake.
Wie der Titel besagt, geht es um die Aufklärung der Patienten vor der sogenannten „Corona – Impfung“, denn auch
„präventiv wirkende Behandlungsmaßnahmen sind grundsätzlich nur dann rechtmäßig, wenn der Patient in ihre Vornahme einwilligt. Dies setzt eine vorgängige Aufklärung durch dazu qualifizierte Personen voraus. Fehlt eine informierte Einwilligung, ist die Behandlung mithin selbst dann rechtswidrig, wenn der Eingriff medizinisch indiziert und lege artis durchgeführt war. Denn nur so kommt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zur Geltung (Art. 1 I GG, Art. 2 I GG, Art. 2 II 1 GG).“
Um dieses Selbstbestimmungsrecht umzusetzen, wurden im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) spezielle Regelungen über die Informations -, Aufklärungs – und Erläuterungspflichten des Arztes aufgenommen (§§ 630 c – e). „Die Regelungen sind strafrechtlich (§§ 223, 224 StGB) und zivilrechtlich relevant: Eine fehlende Aufklärung und eine nicht eingeholte Patienteneinwilligung sind Pflichtverletzungen des Arztes (§ 280 I BGB).“ Anders gesagt: Ein Eingriff, dem keine oder eine mangelhafte Aufklärung zugrunde liegt, stellt eine strafbare Körperverletzung dar und verpflichtet im Falle eines nachgewiesenen kausalen Schadens schon deshalb zum Schadensersatz; hinzu kommt eine Schadensersatzpflicht wegen Verletzung der Pflichten aus dem Behandlungsvertrag.
Die gesetzlichen Regelungen der Aufklärungs – und Erläuterungspflichten über die Art der Behandlung, u. a. deren Chancen und Risiken, gelten entsprechend auch für Impfzentren. „Die in § 1 II Corona ImpfV formulierten Aufklärungsinhalte treten dabei nicht als reduktionistische Spezialregelung ersetzend an die Stelle der gesetzlichen Aufklärungspflichten, sondern konkretisieren die dort geregelte Impfbehandlung durch Verordnungsrecht.“ Verordnungen können keine Gesetze und schon gar keine Grundrechte einschränken, sondern lediglich den gesetzlich vorgegebenen Rahmen konkretisieren.
In dem Aufsatz wird zunächst auf die Besonderheiten der Situation verwiesen:
„Zum Zeitpunkt der Impfung hatten die mRNA - Impfstoffe unionsrechtlich nur eine bedingte Zulassung.“ Dieses habe Konsequenzen für die ärztliche Aufklärung:
„Die Aufklärung über die „Art" der Behandlung kann diese Besonderheit nicht unberücksichtigt lassen: Sie muss den — in kursierenden Formularbögen fehlenden und daher individuell zu ergänzenden — Hinweis umfassen, dass es sich nicht um ein regulär zugelassenes Arzneimittel handelt, sondern um eines, das nur ausnahmsweise eine mit Auflagen für den Hersteller versehene, anomale („bedingte") und lediglich befristete Zulassung erhalten hat (Erwgr. 1, 2 und 9 VO), weil ein anderes zufriedenstellendes Mittel gegen die mögliche Erkrankung nicht zugelassen ist (Art. 4 II VO).” Nach Unionsrecht müsse auf der Packungsbeilage deutlich erkennbar vermerkt sein, dass es sich nur um ein bedingt zugelassenes Medikament handele, damit diese Information ordnungsgemäß weitergegeben werden könne.
Im Geltungsbereich des deutschen Rechts sei es jedoch zulässig gewesen, die Corona – Impfstoffe ohne Packungsbeilage in Verkehr zu bringen. Vielmehr sei die dafür zuständige Bundesoberbehörde verpflichtet gewesen, sämtliche Produktinformationen auf geeignete Weise (und barrierefrei) zu veröffentlichen.
Impfende hätten mithin nicht auf die Packungsbeilage Bezug nehmen können. Zudem würde ein Verweis auf die Packungsbeilage ohnehin dann nicht ausreichen, wenn die möglichen Nebenwirkungen den Patienten empfindlich treffen könnten. Dann sei eine zusätzliche Unterrichtung durch den behandelnden Arzt nötig.
Die Besonderheiten der Aufklärung beim Einsatz neuartiger Arzneien gingen aber nach der Rechtsprechung noch weiter:
„Wenn der Arzt eine alternative oder neuartige Behandlungsmethode (sog. Neulandmethode) wählt, ein neues, noch nicht zugelassenes Medikament einsetzen oder ein zugelassenes Medikament außerhalb des Indikationsgebiets, für das es zugelassen ist, verwenden will (Off -Label -Use), muss der Patient über die damit verbundenen Vor- und Nachteile sowie deren Verhältnis zu den Vor – und Nachteilen konventioneller Methoden ins Bild gesetzt werden. Dabei sei eine einseitige Fokussierung auf die Risiken der neuen Methode ebenso zu vermeiden wie eine Überbewertung von deren Chancen. Eine Verzerrung des Aufklärungsgesprächs und der darauf aufbauenden Entscheidung des Patienten drohte vor allem dann, wenn die Wahrscheinlichkeit schädlicher Nebenwirkungen verniedlicht oder die Wahrscheinlichkeit des Heilungserfolgs überzeichnet wird.
Lassen sich die Risiken der neuen Methode noch nicht hinreichend abschätzen, sei der Patient genau darüber zu informieren. Auch nach der Rechtsprechung muss dem Patienten
unmissverständlich vor Augen geführt werden, dass es sich um eine Neulandmethode handelt, die (noch) nicht allgemein anerkannt ist. Dies sei erforderlich, um den Patienten
in die Lage zu versetzen, sorgfältig abzuwägen, ob er sich nach der herkömmlichen Methode mit bekannten Risiken behandeln lassen möchte oder nach der neuen Methode
unter besonderer Berücksichtigung der in Aussicht gestellten Vorteile und der noch nicht in jeder Hinsicht bekannten Gefahren. Mit dieser Information sei der Hinweis zu verbinden, dass die Methode folglich mit bisher nicht bekannten Risiken verbunden sein kann. Die Unsicherheit über Risiken sei bei Neulandmethoden höher und das müsse dem Patienten gesagt werden.“
Die Autoren untersuchen nachfolgend die Aspekte, die für eine Einordnung der mRNA – Impftechnik als Neulandmethode sprechen und bejahen deren Vorliegen. Dies habe Auswirkungen auf Art und Umfang der Aufklärung.
“Bei der Aufklärung zu Art und Umfang der Behandlung ist relevant, dass die Wirkweise der Methode noch nicht gesichert geklärt ist. Das führt denknotwendig zur Unmöglichkeit
einer abschließenden Risikobeschreibung und damit zu einem Rechtsproblem eigener Art.
Anerkannt ist nämlich, dass Behandlungsrisiken auch bei öffentlich empfohlenen Impfungen und auch bei äußerst geringer Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Impfschadens eine genaue Aufklärung erfordern: Entscheidend für die ärztliche
Hinweispflicht, so der BGH, sei nicht ein bestimmter Grad der Risikodichte. Maßgebend sei vielmehr, ob das betreffende Risiko dem Eingriff spezifisch anhaftet und es
bei seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belaste. Grundsätzlich müsse auch über äußerst seltene Risiken aufgeklärt werden. Das gelte
„auch für öffentlich empfohlene Impfungen, bei denen die Grundimmunisierung
der Gesamtbevölkerung zur Verhinderung einer epidemischen Verbreitung der Krankheit im öffentlichen Interesse liegt. In Fällen öffentlicher Impfempfehlung hat zwar durch die Gesundheitsbehörden eine Abwägung zwischen den Risiken der Impfung für
den einzelnen und seine Umgebung auf der einen und den der Allgemeinheit
und dem einzelnen drohenden Gefahren im Falle der Nichtimpfung auf der anderen Seite bereits stattgefunden. Das ändert aber nichts daran, dass die Impfung gleichwohl freiwillig ist und sich der einzelne Impfling daher auch dagegen entscheiden kann. Dieser
muss sich daher nicht nur über die Freiwilligkeit der Impfung im Klaren sein (...). Er muss auch eine Entscheidung darüber treffen, ob er die mit der Impfung verbundenen Gefahren auf sich nehmen soll oder nicht. Das setzt die Kenntnis dieser Gefahren, auch wenn sie sich nur äußerst selten verwirklichen, voraus; diese muss ihm daher durch
ärztliche Aufklärung vermittelt werden.”
Dies bedeute, dass das Nichtwissen offengelegt und zugleich dargelegt werden müsse, worauf die Erwartung der Wirksamkeit, Effizienz und Sicherheit des neuartigen Impfstoffes beruhe. Dabei sei der Hinweis auf die Empfehlung der Ständigen Impfkommission am Robert – Koch – Institut, die für Ärzte als Leitlinie gelte, nicht hinreichend:
„Denn offen bleibt, wie der Arzt damit darüber aufgeklärt hatte, dass er mit einer eigenen
Behandlung immer noch nur einer behördlichen Impfempfehlung folgt, die — wie er weiß — ihrerseits selbst bei der empfehlenden Stelle nur unter „Neuland"-Ungewissheiten
ausgesprochen wird. Auch sie kann also bestenfalls den aktuellen Stand der Erkenntnisse berücksichtigen, übliche Langzeituntersuchungen aber fehlen. Ist also eine Aufklärung über die Unmöglichkeit der Aufklärung wegen Unwissenheit geschuldet?
Das Dilemma verschärft sich bei den vorgreiflichen Fragen zur Notwendigkeit der ausersehenen Therapie, zu ihrer Dringlichkeit, zu ihrer Eignung, zu ihren Erfolgsaussichten
sowie zu möglichen Alternativen. Denn selbst wenn Anamnese und Diagnose ein „Ob" von Therapie im Allgemeinen nahelegen, so lässt sich mangels Kenntnis von konkreten
Risiken schwerlich eine das Unwissen über das „Wie" dieser Therapie im Speziellen kompensierende Belehrung denken.“
Was aber, wenn ein Patient unbedingt eine Impfung wünsche? „Ist also eine Aufklärung
über die Unmöglichkeit der Aufklärung wegen Unwissens geschuldet?“
Aus dem Dilemma führe nur ein offengelegtes Teilen der Unwissenheit und ein Verzicht des Patienten auf Aufklärung; grundsätzlich gebe es gesetzliche Regeln, wonach ein Patient auf Information und Aufklärung verzichten könne. Notwendig sei dafür ein persönliches Gespräch. Ein Verweis des Patienten auf schriftliches, standardisiertes Informationsmaterial sei nicht hinreichend, denn dieses sei nach der Rechtsprechung nur bei Routineeingriffen zulässig. „Das Unbekannte und die Routine schließen einander aber begrifflich aus.“
Eine solche Aufklärung über die Unmöglichkeit der Aufklärung müsse nach den gesetzlichen Regelungen rechtzeitig erfolgen, so dass der Patient eine wohlüberlegte Entscheidung treffen könne. Auch dieses ist wiederum problematisch, denn wenn die Risiken und Chancen nicht hinreichend bekannt seien, wie könne dann eine Entscheidung wohlüberlegt sein? „„Wohlüberlegt" kann somit konkret allein die eigene Bereitschaft des Patienten sein,
eigenverantwortlich unbekannte Risiken einzugehen, um dadurch seine Therapiehoffnung zu verwirklichen.“
Ein wirksamer Verzicht auf die Aufklärung entbinde den Impfenden aber nicht von der Pflicht zur Erläuterung weiterer, für die Behandlung wesentlicher Umstände, z. B. dass hinsichtlich des Transmissionsschutzes keine belastbaren Studien vorlägen, die Dauer des Impfschutzes unbekannt sei, nicht in eine bestehende Infektion hinein geimpft werden dürfe u. v. m..
Die Autoren kommen zu dem Fazit:
„Auch bei nur bedingt zugelassenen Impfarzneien und mit noch offenen Risikoprofilen ist es durchaus möglich, hinreichend über die Bedeutung der Behandlung nach
Maßgabe der gesetzlichen Voraussetzungen aufzuklären und die nötigen Erläuterungen für einen wirksamen Verzicht auf (weitere) Aufklärung zu erbringen.
Grundsätzlich erscheint dabei angemessen, den jeweiligen Stand der Kenntnis von der Wirkweise einer Arznei (bei ihrem Hersteller und den Zulassungsstellen) in
eine Wechselbeziehung zu dem nötigen Umfang der ärztlichen
Risikoaufklärung zu setzen: je weniger gesicherte Informationen über die Folgen der Gabe bzw. Verabreichung einer Arznei vorliegen, desto größer sind die — nach
§ 630 f BGB zur Meidung der Folgen des § 630 h III BGB zudem dokumentationspflichtigen — Aufklärungs- und Erläuterungsaufgaben des Arztes vor ihrem Einsatz im konkreten
Einzelfall.
Desgleichen müssen sich entwickelnde Kenntnisse in der Aufklärung niederschlagen und sie aktualisierend modifizieren: Schützt etwa eine Impfarznei wider ursprüngliches
Erwarten nicht vor einer Infektion als solcher, sondern mildert sie lediglich mögliche Verläufe, hat sich dies in der konkreten ärztlichen Information zur Abwägungsbelehrung
niederzuschlagen.
Bewertung:
Das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Menschen ist die Basis unserer verfassungsmäßigen Ordnung. Es ist das grundlegende Prinzip, der Kern der Menschenwürde und der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Damit beschränkt es die Zulässigkeit staatlicher Eingriffe und grenzt funktional die Sphäre des Individuums von der des Staates ab. Inhaltlich wendet es sich also mitnichten gegen Naturgesetze, sondern soll die stets drohende Übergriffigkeit menschlicher Macht in Form staatlicher Gewalt begrenzen.
Das Selbstbestimmungsrecht als Kern unserer verfassungsmäßigen Ordnung gebietet es, Menschen nicht zu belügen und unter Druck zu setzen. Der mündige Bürger soll seine Entscheidung aufgrund eines objektiven und korrekten Lagebilds machen können.
Dieses Selbstbestimmungsrecht ist daher der Maßstab für den Umfang der Aufklärungspflichten. Es ist offensichtlich, dass dieses in der Corona – Zeit von (zu) vielen missachtet wurde, auch von denjenigen, die im besonderen Maße Verantwortung trugen. Die Aufarbeitung steht erst am Anfang, schon jetzt zeigt sich ein bestürzendes Bild. So gab es Ärzte (wie es auch Wissenschaftler und Politiker gab), die sich verantwortungsbewusst verhalten haben. Viele waren es jedoch nicht. Hier die zivilisatorischen Mindeststandards wieder zur Geltung zu bringen, dürfte eine Mammutaufgabe auch (oder gerade) für die Gerichte sein. Immerhin, mit diesem Aufsatz, der die Leitplanken der Beurteilung der ärztlichen Aufklärungspflicht beleuchtet, ist ein wichtiger Anfang gemacht.