Von
Quantitäten zu einer neuen Qualität: Der Parteienstaat
Vorbemerkung: Als die SPD noch regional in vielen Wahlkreisen verortet war, trat sie Wahlkreisstimmen nicht in die Tonne. Jetzt, wo dieses hohe Gut für immer weg zu sein
scheint, rasiert die SPD die Bedeutung der Erststimme. Verbrannte Wahlkampf-Erde.
Am 17.
März 2023 ab 9.00 Uhr debattiert und beschließt der Deutsche Bundestag die Änderung
des Wahlgesetzes. Die
angeblich kleinen Änderungen werden große Wirkungen
entfalten. Die Macht der Parteigewaltigen wird größer, der Einfluss parteilinienkritischer autarker Geister wird kleiner. Die Große Transformation bemächtigt sich des demokratischen Tafelsilbers.
Statt der Stärkung direkter Elemente im Wahlrecht soll die Abdrift in den Parteienstaat verstärkt werden. Union und Die Linke werden nicht zustimmen und wahrscheinlich nach Karlsruhe gehen.
Die Inflation von Ausgleichs- und Überhangmandaten führte zu einem Deutschen Bundestag mit aktuell 736 Abgeordneten - eine in der Bevölkerung wenig akzeptierte Zahl. Repräsentanz und Effizienz
scheinen in akutem Widerspruch zu stehen. Die Forderung lautet: Stärkere Repräsentanz der Bevölkerung bei höherer Effizienz des Deutschen Bundestages, also des parlamentarischen Betriebs. Sollte
es zu keiner die parlamentarische Demokratie stärkenden Wahlrechtsänderung kommen, das Wort Reform ist abgenutzt und bedeutet meist die Verbrämung von tatsächlichen Verschlechterungen, dürfte der
Unmut über die Ausuferung der Parteienmacht steigen. Genauso scheint es leider zu kommen.
Eine Transformationskoalition aus SPD, FDP, Grünen und AfD will den Mix aus Direktwahl und Parteienwahl zu Lasten der Direktwahl „reformieren“, heißt ins Deutsche übersetzt
verschlechtern! Denen geht es nicht um ein Mehr an Demokratie, um die gewählte Vertretung im Parlament. Die Parteien sollen es endlich ganz allein richten, der Staat ist ihre Beute.
Schreibt das Grundgesetz noch hoffnungsvoll von der Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung der Bevölkerung so nehmen SPD, FDP, Grüne und AfD der Wahlbevölkerung ihre direkte
Mitwirkung in Bundestagswahlen.
Dabei wäre es doch so einfach. Der Bundestag wird in 299 Wahlkreisen gewählt. Gäbe es nur die Möglichkeit der Direktwahl statt des Mixes aus Mehrheits- (Direkt) und Verhältniswahlrecht (Partei),
würde der Bundestag immer 299 Abgeordnete haben. Keine mehr, keine weniger. Repräsentanz und Effizienz würden sich näherkommen und die Bevölkerung würde das Verfahren mit Zustimmung honorieren.
So jedenfalls meine Erfahrungen über zwei Jahrzehnte aus vielen solcher Diskussionen.
Selbstverständlich können 299 direkt gewählte MdBs nicht gleich 299 fehlerfreie Politiker sein. Menschen machen immer auch Fehler, besitzen unterschiedliche Eigenschaften. Auf das Grundprinzip
kommt es an: Verantwortliche Repräsentanz versus Parteienoligarchie.
Der jetzige Wahlrechtsänderungsentwurf
der
Koalition mit dem Ziel von 630 Bundestagsabgeordneten, interessanterweise mitgetragen von der ach so volksnahen AfD, geht in Richtung Parteienstaat statt mehr direkte Demokratie. Geht es um die
Macht der Partei über den Einzelnen, verhält sich die AfD nicht anders als die von geschmähten Altparteien. Aus neu macht sich alt, die AfD.
Die CDU steht bei dem Thema allerdings ebenfalls nicht auf weißen Füßen. Es war ihr Bundestagspräsident Schäuble, der 2019 die Meute auf die Direktmandatsfährte setzte.
„Schäuble plädierte in einem Kompromissvorschlag dafür, die Zahl der Wahlkreise von derzeit 299 auf 270 zu reduzieren und die ersten 15 sogenannten Überhangmandate nicht mehr auszugleichen.
Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreise direkt gewinnt als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis an Sitzen zusteht.“ (Deutscher Bundestag Dokumente:
Schäuble
zur Wahlrechtsreform: Müssen es in dieser Wahlperiode schaffen).
Eine persönliche Anekdote von 2008
Die SPD-Spitzenkandidatin Ypsilanti schloss vor der Landtagswahl in Hessen eine Koalition mit der Linkspartei definitiv aus. Das galt nach der Wahl plötzlich nicht mehr. Doch gab es
innerparteiliche Widerstände. Ausgerechnet von direkt gewählten Abgeordneten. Dagmar
Metzger/Darmstadt
war darunter die prominenteste der Standhaften. Ihr galt der größte Hass der pro-Linkskoalitionswilligen.
Die Diskussion erreichte auch die SPD-Bundestagsfraktion.
Hermann
Scheer, im
Hauptberuf Solarpapst, wollte in Hessen partout Wirtschaftsminister werden und dort mit dem beginnen, was uns allen seit dem Seebeben
vor Fukushima 2011 energetisch
absurd in Deutschland angetan wird. Dagmar Metzger gebührt auch deshalb großer Dank für ihre Standhaftigkeit. Wir wären ohne sie schon eher des Wahnsinns fette Beute geworden!
Scheer zog in der SPD-Fraktion über Metzger her und forderte sie von Berlin aus auf „ihr Mandat zurückzugeben“! Sie sollte sich gefälligst der Partei unterordnen.
Ihm sprangen viele Abgeordnete bei, doch bei weitem nicht alle. Auch ich beteiligte mich an der Diskussion und wunderte mich, wie ein Bundestagsabgeordneter, der den Terminus „Direktwahlsieger“ nur aus der politischen Literatur kennt, nie direkt gewählt wurde und auch sicher keine
Aussicht auf solch ein Mandat in der Zukunft besitzt, eine direkt gewählte Landtagsabgeordnete um ihr Mandat bringen will.
Ein interessanter Blick: Das Erststimmenergebnis vom 26. September 2021
„Johann
Saathoff aus Niedersachsen ist Erststimmenkönig“ titelt
die Homepage des Deutschen Bundestages. STATISTA
zeigt es
deutlich: Statt der jetzigen Koalition aus SPD/Grüne/FDP würde uns jetzt höchstwahrscheinlich eine Union (28,5 %,) Grüne (14 %), FDP (8,7 %)-Regierung im Dilemma verwalten. Ob diese sich auch zur
Großen Transformation der Bundesrepublik aufgemacht hätte? Grüne Höschen unterm Parteikleidchen tragen auch CDU/CSU… . Welche der jetzigen Matadoren
in den Fraktionen wären eigentlich noch im Parlament und könnten weiterhin den Matador geben? Hier die Liste
der
Abgeordneten mit Angabe Erst- und Zweitstimmenergebnis. Die geneigte Leserschaft möge die Namen der jetzigen Meinungs- und Stimmungsmacher suchen und feststellen, ob dieser oder jener unter dem
Mehrheitswahlrecht noch im Spiel wäre? Wer könnte das dann sein?
Zum Komplex Mehrheits- und Verhältniswahlrecht schrieb ich 2017 auf der Achse des besonders Guten den folgenden Beitrag, der aus meiner Sicht weiterhin volle Gültigkeit besitzt:
Her mit
dem Mehrheitswahlrecht!
Roman
Herzog forderte zweimal einen Ruck in und für Deutschland. Bekannt ist allerdings nur noch seine Forderung von 1997. Mit seiner
Ruck-Rede wird der
jüngst verstorbene frühere Bundespräsident wahrscheinlich noch sehr lange im kollektiven Gedächtnis der Deutschen bleiben. Er forderte Mumm von der politischen Klasse. Mumm zum Aufbruch und den
Abbruch der Verwaltung des Durchwurstelns. Im Gedächtnis wird diese Rede auch bleiben, weil es einen Politiker gab, der machtvoll reagierte: Sechs Jahre später zog Gerhard Schröder die Reißleine
und beendete den Stillstand. Seine AGENDA 2010 brachte die SPD zwar um die Regierungsmacht, die Bundesrepublik jedoch in ihre stärkste Phase seit Jahrzehnten. Schröder schuf ohne das zu ahnen das
wirtschaftliche Fundament späterer Merkelscher Stärke und Merkelschen Übermuts. Dieser Satz bezieht sich eindeutig auf Schröders Reformen und keineswegs auf seine damals weitgehend unbekannte
und absolut verwerfliche Russland-Agenda!
Völlig untergegangen ist Roman Herzogs
zweite Ruck-Forderung vom März
2008 nach Änderung des Wahlrechts. Das wundert mich nicht. Auch nicht, dass in diesem Fall niemand nachzog. Jetzt haben wir den Salat. Niemand weiß, wie die kommende Bundestagswahl ausgehen
wird und wie sich diese Bundesrepublik in der Folge verändern oder stabilisieren wird. Lautete das Stichwort Anfang des neuen Jahrtausends noch „Stillstand“, das jeder Bürger und jede Bürgerin
sofort verstand, so ist es momentan das Gefühl, Wahlen kommen und gehen, die (demokratisch legitimierten) Bestimmer bleiben trotzdem immer die Gleichen.
Das liegt im Verhältniswahlrecht begründet. Nun gibt es durchaus triftige Argumente für ein solches Wahlrecht. Mein Freund Stephan Hilsberg, Gründungsmitglied der Sozialdemokratischen Partei der DDR, schrieb mir zum Thema:
„Das Verhältniswahlrecht macht die Abgeordneten etwas unabhängiger von ihrer Partei. Und das ist schon ganz gut... Alles, was check and balances fördert, was zu einer gut ausbalancierten Gewaltenteilung führt, fördert die politische Stabilität. Also das, was das Volk hasst, nämlich der dauernde Streit, das sich gegenseitige Blockieren trägt in Wirklichkeit zur Stabilität, zur Sicherung des Rechtsstaates, zum inneren Frieden bei...Machiavelli führte die Stabilität des römischen Weltreiches auf die Machtteilung zurück, zwischen Kaiser und Senat. Das machte die Menschen nicht besser, als sie sind. Aber es setzte der Dummheit der einen, die Dummheit der anderen als Grenze. Die Vernunft mag es schwer haben unter diesen Bedingungen, und damit vielleicht auch der Fortschritt. Aber zumindest hat es auch der Rückschritt schwer, und Fehler werden vermieden. In einem solchen System liegt viel Weisheit.“
Im Deutschland des Jahres 2017 sind allerdings Lethargie, Abstinenz, auch Ablehnung die Folgen – ein unangenehmer Mischmasch. Deutschland steht inmitten schwieriger Zeiten. Ich möchte keine andere Bundesrepublik, im Gegenteil. Für diese Bundesrepublik inmitten Europas als Mitglied von EU und NATO bin ich auf die Straße gegangen. Doch möchte ich frischen Wind und konkretere Verantwortung, ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten.
Unterm Mehrheitswahlrecht werden Parteien realistischer
Deutschland braucht einen Ruck im Wechselspiel zwischen Wahlvolk und Gewählten. Einen Ruck, der nichts an den Grundsäulen unserer Demokratie verändert, diese jedoch direkter und abrechenbarer macht: Wir brauchen das Mehrheitswahlrecht (und werden es wohl nie bekommen. ich weiß). Eine Mehrheitswahl ist ein Repräsentationsprinzip mit dem Ziel, eine parlamentarische Regierungsmehrheit für eine Partei herbeizuführen. Es bezeichnet ein Verfahren zur Auswahl eines Vorschlages aus einer Reihe vorgegebener Alternativen durch die Mehrheit einer Gruppe von Wählern. Somit zeichnet sie sich als ein Verfahren zur direkten Wahl von Repräsentanten aus. So wie in verschiedener Ausprägung in Frankreich, Großbritannien und den USA.
Ich gebe zu: Auch ich kam von meinen fünf vollen Bundestagsmitgliedschaften die beiden ersten Male über die Zweitstimme in den Bundestag, profitierte also scheinbar vom Verhältniswahlrecht. Aber es trifft nicht zu, dass ich unter den Bedingungen eines Mehrheitswahlrechts nicht in den Bundestag eingerückt wäre. Weil nämlich niemand sagen kann, ob eine realistischere SPD unter den Bedingungen eines Mehrheitswahlrecht 1989/90 so versagt hätte, wie sie es unter dem Verhältniswahlrecht tat. Ich behaupte, die SPD wäre 1990 keine postindustriell abgehobene Partei gewesen, hätte Politik so gemacht, wie es die Wahlkreisgewinner wollten und nicht so von über Listen abgesicherten Ideologen.
„Hätte hätte Fahrradkette“. Wer direkt gewählt werden will, benötigt die relative Mehrheit alle Wähler im Wahlkreis. Über die Köpfe der Leute hinweg schwadronieren hilft ihm oder ihr überhaupt nichts, weil es keinen sicheren Listenplatz gibt. Im Gegenteil: Der mögliche Erfolg ist nur in Übereinstimmung mit möglichst vielen Wählerköpfen zu erreichen. Unter dem Zwang, die Übereinstimmung mit möglichst vielen Wählerinnen und Wählern zu suchen, werden sich in allen Parteien eher realitätsbezogene Typen durchsetzen. Das Angebot der Parteien wird realistischer und bleibt näher am Souverän – Quoten haben keine Chance.
Auch wäre die Einführung des Mehrheitswahlrechts ein tatsächlicher Schritt zu direkterer Demokratie. Gleichzeitig gäbe es die Diskussionen um den von Wahl zu Wahl ins Bombastische wachsenden Bundestag nicht mehr. Die Zahl der Bundestagsabgeordneten wäre tatsächlich begrenzt und würde nur Änderungen folgen, die die Zahl der Wahlkreise beträfe: Aktuell haben wir 299 Wahlkreise, aktuell würden demzufolge 299 Bundestagsabgeordnete gewählt und zwar schön direkt!
Der Bevölkerung vorschreiben, welches Geschlecht in welchem Wahlkreis zu wählen ist, ist von vornherein lächerlich und in der Praxis undurchführbar. Prominenz schützt vor dem Praxistest nicht, das heißt prominent bleibt über mehrere Legislaturperioden nur, wer sich jedes einzelne Mal direkt im eigenen Wahlkreis durchsetzt, also nicht in höhere Gefilde davonzieht, so dass er oder sie die Bodenhaftung verliert. Fraktionsvorsitzender, Fraktionsvorstand vermag nur zu bleiben, wer direkt wiedergewählt wird.
Auch große Namen müssen sich jedes Mal neu bewähren
Das gegenwärtig praktizierte Prinzip „Bei Akzeptanzverlust für die Partei verkürzt sich nur die jeweilige Landesliste und die Fußsoldaten müssen dran glauben“, geht sofort in die ewigen Jagdgründe ein. Die Großkopferten bleiben nicht mehr gesichert, während die nicht ganz linientreuen Mitkämpfer bleiben dürfen, wo der Pfeffer wächst. Diese Art von Parteibereinigung zugunsten der ideologischen Linie entfällt fürderhin. Die Verantwortung für Politik würde direkter.
Koalitionsregierungen sind so gut wie ausgeschlossen. Das bedeutet, die Wahlprogramme sind abrechenbar. Bislang gilt: Wir versprechen etwas, was wir im Falle eines 51prozentigen Wahlsieges durchführen würden, wissen aber ganz genau, wir werden mit künftigen Koalitionspartnern auf viele unserer Ziele verzichten und Ziele der anderen auch zu unseren Zielen machen müssen. Abrechenbarkeit nach Legislaturen sieht anders aus. Die Regierungspolitik müsste sich am im Wahlkampf Versprochenen ausrichten. Ausreden fallen schwerer: Wahlprogramm gleich Regierungsprogramm.
Aber leider, leider: Daraus wird nichts. Wetten? Zur Änderung des Wahlrechts bedarf es Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat. Daran sind mit Schmidt und Barzel zwei sehr starke Persönlichkeiten bereits 1967/68 gescheitert. Weil die FDP verloren gegangen wäre und beide Parteien die FDP dringend brauchten. So wie heute CDU und SPD meinen, sie bräuchten FDP, Grüne oder Linksaußen. FDP, Grüne, Linksaußen, auch genauso die AfD, sie alle würden ihrerseits gegen das Mehrheitswahlrecht Sturm laufen. Soviel direkte Demokratie soll es denn dann doch nicht sein. Darüber schwadronieren: ja. Es machen: Nöh, nich‘ mit uns!
Kleine Parteien werden bei so einer Wahlrechtsreform nicht mitmachen, denn Direktwahlsiege würden für deren Kandidaten die große Ausnahme. Kleine Parteien kommen dann in Parlamenten nicht mehr oft vor. In den großen Fraktionen wird es aber ebenfalls keine Mehrheit geben, da das Mehrheitswahlrecht wohl mit dem sicheren Mandatsverlust vieler Bundestagsabgeordneter verbunden wäre. Mit Überhangmandaten ist die Zahl der direkt gewählten Bundestagsabgeordneten geringer als die der über Landeslisten gewählten. Die direkt Gewählten kommen nie auf über 50 Prozent in Abstimmungen zur dieser revolutionären Wahlrechtsänderung.
Helmut Schmidt meinte:
„Ich habe immer gewusst, dass das Verhältniswahlrecht in aller Regel dazu führt, dass eine größere Zahl von Parteien ins Parlament einzieht. Es zwingt zur Koalitionsbildung und damit zu Kompromissen, und zum Teil sind diese Kompromisse in der Sache nicht förderlich. Deshalb habe ich vor einem halben Jahrhundert, zur Zeit der ersten Großen Koalition, gemeinsam mit Herbert Wehner und den CDU-Kollegen Rainer Barzel und Paul Lücke dafür plädiert, ein Mehrheitswahlrecht nach angelsächsischem Vorbild einzuführen. Wir sind mit diesem Vorschlag gescheitert, die Fraktionen von CDU/CSU und SPD haben ihn abgelehnt.“ (Helmut Schmidt am 28.07.2011 in der Zeit).