Am 2. Februar 1990 traten US-Außenminister James Baker und der bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher vor die Presse und erklärten ihre Sicht auf die aktuelle Situation mit den
anhaltenden Massendemonstrationen in der DDR unter dem stärker werdenden Slogan „Kommt die DM-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr!“, der für Gorbatschow bedrohlichen Lage hinsichtlich der
Angriffe seiner Hardliner in Moskau und innerhalb der sowjetischen Weststreitkräfte in der DDR und bezüglich möglicher aufkommender Wünsche von Ost- und Mitteleuropäern, ihr Zwangsbündnis im
„Warschauer Pakt“ zu verlassen und sich ein Bündnis passend zu ihren eigenen Sicherheitsbedürfnissen zu suchen.
Noch standen diese Wünsche nicht auf der Tagesordnung, aber zu rechnen war in der Zukunft mit ihnen. Gorbatschow hob 1985 die „Breschnew-Doktrin“ auf und wiederholte folgend mehrfach, dass jeder
Staat sich sein eigenes Bündnis aussuchen können muß. Damit versuchte er wahrscheinlich, den „Warschauer Pakt“ zu retten, indem er diesen mit einem menschlichen Antlitz versehen und damit
attraktiver machen wollte.
Das mit dem menschlichen Antlitz für den „Warschauer Pakt“ ist meine Anleihe an den „Prager Frühling“ und dessen Versuch, dem Sozialismus ein menschliches Antlitz zu geben.
So wie der „Prager Frühling“ am 21. August 1968 mit sowjetischen Panzern ermordet wurde, so scheiterte Gorbatschow mit seinem Versuch, den „Warschauer Pakt“ mittels Demokratisierung ein neues
dauerhaftes Leben einzuhauchen. Der Zwangspakt löste sich zum 1. Juli 1991 auf. Bis auf die Sowjetunion hatte kein anderer Staat Interesse am Verbleib darin. Selbst die angebliche NATO-Zusage von
1990 konnte das nicht verhindern. Die Mittelosteuropäer wollten raus. Punkt. Ich verstand das damals und verstehe es erst recht heute.
Genscher und Baker am 2. Februar 1990
Genschers Aussage stammt vom 2. Februar 1990! Weiß noch jemand, was damals los war? Gorbatschow stand seit Ende Oktober 1989 seitens der in der DDR stationierten Weststreitkräfte der Sowjetunion
schwer unter Druck. Die Generale wollten die DDR aufräumen. Entsprechende Erwartungen gab es auch seitens der SED-PDS.
Noch im November 1989 galt das Reden von Deutscher Einheit als Kriegsgeschrei. Das habe ich persönlich erlebt. Damals galt es unter allen Umständen vom Westen aus Gorbatschow im Amt zu halten.
Die Moskauer Hardliner durften nicht noch mehr Sprengstoff in die Hände bekommen. Ein Blutbad in der DDR musste vermieden werden. US-Präsident George Bush sen. wies deshalb seine Administration
an, auf alles zu verzichten, was nach Jubel über den Sieg über die Sowjetunion aussah. Der Verlierer durfte nicht gedemütigt werden. So geschah es dann auch.
Auch mit mir sprach ein hochrangiger Vertreter der sowjetischen Botschaft, weil meine und damit die SDP/SPD-Meinung zur Deutschen Einheit jeden Montag vor vielen Ostdeutschen zu vernehmen war. Der Mann kam auf mich zu, weil ich mich aus sowjetischer Sicht differenzierend zum Thema Demos und Gorbatschow geäußert hatte und das in Moskau bemerkt wurde.
Januar 1990 „Daumendrücken für Gorbatschow!“
(Auszug aus meinen Aufzeichnungen „Mein erstes Jahr in der Politik“
Bemerkenswert war für mich auch die Aufmerksamkeit, die Gorbatschows Administration in Ostberlin meinen Reden angedeihen ließ. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich war doch nur Redner in Leipzig.
Heute sehe ich das natürlich anders. Gorbatschow stand 1989/90 in Moskau an der Wand, seine Hardliner wollten dem Spuk in der DDR ein Ende bereiten. Für ihn und seine Leute war es wichtig, ganz
konkret zu wissen, was sich gerade in Leipzig weiterhin tat. Leipzig war einer der großen Motoren zur Deutschen Einheit.
Am Rande des Markkleeberger SPD-Ost-Parteitages vom 23. bis zum 25. Februar 1990 bat mich der sowjetische Konsul Juri Mesherjakow[1] zu einem vier-Augen-Gespräch. In diesem Gespräch sagte er mir
sehr höflich, dass "Wir alles wissen, was Sie montags zu den Leuten sagen. Verlassen Sie sich bitte darauf." Bezüglich meiner Rede vom 22. Januar 1990 wollte er mir danken, weil ich die Situation
für Gorbatschow in der Tat richtig einschätzte und es weiterhin wichtig sei, dass die freien Reden in Ostdeutschland ausgewogen bleiben, damit die Regierung der Sowjetunion den freien Weg der
Ostdeutschen weiterhin positiv begleiten kann. In den freien Weg schloss er ausdrücklich eine mögliche Entscheidung für die Deutsche Einheit mit ein.
Am 22. Januar 1990 trat ich ohne Stichpunkte ans Mikrofon. Ich wollte nicht viel sagen, nur das mir wichtigste. Nach der Rede machte ich mir aus dem Gedächtnis Notizen zu meinem Auftritt:
„… Die Probleme Gorbatschows im Kaukasus sollten niemanden übermütig oder schadenfroh werden lassen! Sollte der Kessel Sowjetunion platzen - dann werden auch wir die Splitter abbekommen! Allein schon im Interesse der deutschen Frage müssen wir für Gorbatschow hoffen.
Weiterhin warne ich vor Gewaltmaßnahmen der Bevölkerung der DDR gegen das System und dessen Träger. Denn diese Dinge würden mit Sicherheit den Vorwand für Vergeltungsmaßnahmen seitens der
PDSED liefern...!“
(Rede 22.01.1990 GW).
[1] Siehe „Der neue Sozialdemokrat“, 2.-4.Februar 1990, S. 5
Wagenknechts Mythen
Aktuell verstärkt Sarah Wagenknecht die Mythen um eine angebliche NATO-Zusage lange vor der Auflösung des „Warschauer Paktes“, keine mittelosteuropäischen Staaten
aufzunehmen.
Frau Wagenknecht unterschlägt die Situation Anfang 1990. Als damalige frenetische Gegnerin der Einheitsdiskussion, sie war Fan von Stalin und Ulbricht ("Marxismus und Opportunismus - Kämpfe in der
Sozialistischen Bewegung gestern und heute"), nutzt sie die Gelegenheit, ihre damalige SED- Sicht auf die Ereignisse medial zu rehabilitieren.
Ich habe 1989 nicht Honecker oder Krenz zur Einschätzung der Lage gebraucht, ich benötige Frau Wagenknecht nicht über dreißig Jahre später zur Beurteilung der damaligen Situation.
Was Genscher und Baker am 2. Februar 1990 sagten, war ein Stimmungsbild, welches vor dem Hintergrund der noch intakten beiden Supermachtblöcke NATO und Warschauer Vertrag geboten war. Es galt
Stimmungen und Möglichkeiten auszuloten, um die DDR nicht in eine Blutwanne zu stürzen und die ersten guten Kanäle zum Thema mit Moskau nicht gleich wieder zu verstopfen. Es war ein gegenseitiges
Herantasten ein halbes Jahr vor der Einigung im Kaukasus, von der Anfang 1990 noch kein Mensch eine Vorahnung haben konnte und fast ein dreiviertel Jahr vor den Einigungen im 2plus4Format. Bis
dahin gab es noch unendlich viele Gespräche zwischen allen beteiligten Regierungen.
Das Thema Aufnahme weiterer nicht mehr unter der Breschnew-Doktrin gehaltener freier Staaten war da einfach kein Thema. Die waren nämlich alle noch länger im Warschauer Pakt und niemand konnte
sich 1990 vorstellen, dass der auseinanderfallen wird.
Es gab die Aussage Genschers nicht als vertragliches Versprechen, schon gar nicht Anfang 1990. Bundeskanzler Helmut Kohl teilte den Satz ohnehin nicht und der Mann besaß die Richtlinienkompetenz. Weder Gorbatschow, noch Bush, noch Kohl diskutierten das ernsthaft.
27. Mai 1997: Russland stimmt der NATO-Ost-Erweiterung zu: SWR
2
Michail Gorbatschow 2014 im ZDF: NATO-Osterweiterung Mythos
Richard Schröder, der als SPD-Fraktionsvorsitzender/Ost an allen wichtigen Beratungen auf innerdeutscher Ebene teilnahm:
"Das Wort Elbe in der Aktennotiz ist kein Druckfehler. Eine Verwechslung mit der Oder liegt nicht vor. Es ging um die Frage, ob sich das Gebiet der Nato durch die deutsche Vereinigung
erweitert. Die Zusage: nicht über die Elbe besagte: auf dem Gebiet der ehemaligen DDR werden nur Truppen der Bundeswehr, aber keine, die der Nato unterstehen und keine anderer Natostaaten
stationiert. Das wird bis heute eingehalten, obwohl es nach Polens Beitritt zur Nato sinnlos ist. Die Oder war doch vom 3. Oktober 1990 an die Westgrenze des Warschauer Paktes. Darüber, was nach
dessen möglichen Zerfall geschieht, hat man doch damals keine Vereinbarungen getroffen. Auch nach dem Beitritt befanden sich ja auf dem Gebiet der DDR noch einige Jahre ca. 380.000 sowjetische
Soldaten. Amerikanische Kasernen neben sowjetischen Kasernen in den Neuen Bundesländern wurde durch jene Zusage ausgeschlossen - vernünftigerweise."
(Leserbrief 19.2.2022)
Die Legende des Über-den-Tisch-ziehens Rußland, welches 1990 nur Teil der Sowjetunion war, wird genährt von den Gegnern der Deutschen Einheit auf linksextremer und rechtsextremer Seite und auf Seiten des KGB. Redlich sind die alle nicht. Anfang 1990 ging es darum, die friedliche Demonstrationskultur in der DDR zu schützen, um das Verhindern von Blutbädern, zu denen auch eine Frau Wagenknecht sicher richtig-revolutionär nicht „Nein“ gesagt hätte.
2022 werden alte Rechnungen beglichen und der seit 2015 dramatische Vertrauensverlust in die Politik tut ein Übriges. Nichts wird mehr geglaubt. Deshalb gebe ich den Tipp, einen Blick in russische Lager und in deutsche Gefängnisse zu wagen. Solschenizyn sagte sinngemäß, schau dir die Gefängnisse eines Staates an und Du weißt, wo sich das Leben besser gestalten lässt.
Ratlosigkeit im "Warschauer Pakt" am 17. März 1990:
Amüsant finde ich den für mich komischen Wunsch vieler Ostdeutscher, die vermeintlichen Interessen der vormaligen Diktatur wahrzunehmen. Stockholm-Syndrom? Nicht das gemeinsame Interesse an der Sicherheit mit den früheren Ostblockkolonien sondern die Forderung nach Weitergeltung der Lagerordnung wird vernehmbar geäußert. Das ist in der Tat sehr interessant.