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"Meinst Du, die Polen, Balten und Ukrainer wollen überfallen werden?"

 

Gunter Weißgerber/Annette Heinisch

"Meinst Du, die Polen, Balten und Ukrainer wollen überfallen werden?"

Ostdeutsches Schulterklopfen
Bis 1989 wendeten sich immer mehr Ostdeutsche angewidert von „Aktueller Kamera“ und „Schwarzem Kanal“ weg. Belügen konnten sie sich selbst, dazu brauchten sie nicht die Leitmedien von KGB und MfS. Die Bundesrepublik war aggressiv, die bürgerlichen Freiheiten waren dekadent und unsozialistisch, die NATO war ein Angriffspakt. Zum Schutz der friedlichen DDR bedurfte es deshalb Mauer, Stacheldraht, Schießbefehl, antifaschistischen Schutzwalls, Zuchthäuser, vorbereiteter Lager und das alles in Verbindung mit der täglichen Verdrehung historischer Abläufe. Denn wie sagte es schon der Ober-Guru und erster Jakobiner der kommunistischen Revolution Wladimir Iljitsch Uljanow „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“. Und richtig friedlicher Kommunismus brauchte ganz viel gute Kontrolle. Das war klar wie Kloßbrühe.

Je länger die von Moskau in die sozialistischen Bruderländer geschüttete Propaganda anhielt, desto mehr Menschen wandten sich sozusagen reziprok vom System ab. 1989/90 wollten es dann selbst die meisten ursprünglich von der DDR überzeugten Leute nicht mehr, griffen ihr Stück Deutschland und nahmen es mit in die Einheit in der Freiheit und in die Sicherheit der NATO.

In Erkenntnis, dass die im Herbst 1989 gewonnen Freiheiten auf Dauer nur in der Deutschen Einheit abgesichert sein würden, fiel am 18. März 1990 im Volkskammerwahlkampf die deutliche Wahlentscheidung für die Parteien, die den Ostdeutschen die Einheit versprachen. Die „Allianz für Deutschland“ gewann dabei haushoch über die SPD, sie wollte den schnellen Weg über GG-Artikel 23 (Beitritt). Die SPD favorisierte die Fusion nach Verfassungsdiskussion gemäß GG-Artikel 146 und hatte damit keine Chance. Die meisten Ostdeutschen wollten kein drittes Experiment nach nationalem und realem Sozialismus, sie drückten aufs Tempo. Auch wollten sie nie wieder paramilitärische Verbände wie SA oder Kampfgruppen. Ins Heute übersetzt hieße das „Nie wieder Gestapo/SA oder KGB/MfS/Antifa“.

Am 19.August 1991 konnten sich die Ostdeutschen nach Friedlicher Revolution und Deutscher Einheit ein drittes Mal auf die Schultern klopfen. Wäre der Putsch in Moskau im Sinne der Putschisten erfolgreich gewesen und hätte es die Deutsche Einheit in der NATO noch nicht gegeben, in Ostberlin und in der gesamten reformierten DDR wären wieder die Panzer gerollt. So wie 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der CSSR, 1981 in Polen, 1989 in Peking auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ und am „Blutsonntag“ des 13. Januar 1991 im litauischen Vilnius.

Die gesamte DDR-Opposition, auch die hinsichtlich der Einheit zögerliche, hätte die 1989 vorbereiteten Lager kennengelernt. In diesem Sinne hatten die einheitsfreudigen Ostdeutschen am 3. Oktober 1990 sogar die einheitsunwilligen DDR-Oppositionellen und viele andere Demonstranten von 89/90 mitgerettet.

Das vierte Mal war ostdeutsches Schulterklopfen am 31. August 1994 angesagt. An diesem Tag verließen die letzten russischen Besatzungssoldaten Deutschland. Seitdem rumort der russische Bär von Deutschland aus gesehen hinter dem Baltikum, hinter Polen, hinter der Slowakei, hinter Ungarn, hinter Bulgarien, hinter Rumänien. Lediglich die Ukrainer und Georgier haben Pech, sie sind nicht in der Sicherheit der NATO und werden auf Grund des Krieges in der Ostukraine und des eingefrorenen Konflikts in Ossetien auch nicht aufgenommen werden.

Das fünfte ostdeutsche Schulterklopfen stand 2014 auf dem Programm. Der Maidan war nichts anderes als der 9. Oktober 1989 von Leipzig. Mit dem Unterschied, 1989 war der Reformer Gorbatschow in Moskau im Amt und 2014 saß dort der KGB-Mann Putin, der seine eigenen Lehren aus der friedlichen Revolution der Ostdeutschen und der samtenen der anderen Ostblockuntertanen gezogen hatte. Für ihn hieß das „Nie wieder Leipzig 1989, deshalb keinen erfolgreichen Maidan!“. Für das Drehbuch lag genügend Zersetzungsmaterial in den KGB-Archiven, Provokateure wurden auch schnell gefunden und los ging der Versuch der Maidan-Rückabwicklung. Allerdings hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht, die meisten Ukrainer ukrainischer und russischer Zunge stehen noch heute fest gegen Putins Griff.

Eine Bemerkung genehmigen wir uns an dieser Stelle: Dauerhaft erfolgreicher könnte die demokratische Ukraine sein, würde auf Sprachbenachteiligungen verzichtet. Sprachbenachteiligungen waren in der Menschheitsgeschichte ausnahmslos Vorstufen zu Schlimmeren.

 

Sicherheitsinteressen -  von wem?
Die Sicherheitsinteressen der früher von der Sowjetunion besetzen Länder, die Unterdrückung nicht für Frieden halten, sondern in gesicherter Freiheit leben wollen, spielen konkret in der Berichterstattung vieler deutscher Medien und der Haltung erheblicher Teile der Bevölkerung keine Rolle. Angst, das kennzeichnende Merkmal der deutschen Psyche, spielt auch hier die entscheidende Rolle. Wie vormals beim Nato – Doppelbeschluss gilt es: Nur den russischen Bären nicht reizen, im Gegenteil, ihm mit Honig ohne Ende beglücken. Der russische Bär weiß das und nutzt die Schwäche des Westens, speziell Deutschlands, gezielt aus. Auch hier spielt nämlich Deutschland seine unrühmliche Rolle des Sonderlings.

 

Tatsache ist, dass im Dezember 1994 das Budapester Memorandum unterzeichnet wurde. „Im Memorandum verpflichteten sich Russland, die Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien in drei getrennten Erklärungen jeweils gegenüber Kasachstan, Belarus und der Ukraine, als Gegenleistung für einen Nuklearwaffenverzicht die Souveränität und die bestehenden Grenzen der Länder (Art. 1) zu achten.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Budapester_Memorandum

 

Bezüglich der Sicherheit der Ukraine gaben später China und Frankreich eigene Garantieerklärungen ab. Was allerdings fehlt, ist die Bedingung, dass die Ukraine weder der NATO noch der EU als reiner Wirtschaftsgemeinschaft beitreten darf. Anders ausgedrückt: Die territoriale Integrität der Ukraine darf auch dann nicht verletzt werden, wenn ein Beitritt entweder zur EU oder Nato oder beiden Institutionen erfolgt.

 

Objektiv falsch ist die gerade in Deutschland oft gehörte Behauptung, es habe Vereinbarungen, Zusicherungen oder Garantien im Rahmen der Verhandlungen über die deutsche Einheit gegeben, dass sich die westliche Allianz nicht über die Grenzen der ehemaligen DDR hinaus nach Osten ausdehnen würde, wenn Moskau einer Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands in der NATO zustimmt.

 

„Das Narrativ des Kremls hat eine starke moralische Dimension. Dem Westen wird Wortbruch vorgeworfen.“ Nachdem Gorbatschow diese Legende anfangs mit beförderte, stellte er später selbst klar: „Das Thema ,NATO-Expansion‘ wurde überhaupt nicht diskutiert, und es wurde in diesen Jahren [1989-1990] nicht aufgeworfen. Ich sage das in vollem Verantwortungsbewusstsein. Nicht ein einziges osteuropäisches Land hat diese Frage angesprochen, noch nicht einmal nachdem der Warschauer Pakt 1991 aufgehört hatte zu existieren. Westliche Staats- und Regierungschefs haben sie auch nicht erhoben.“https://www.baks.bund.de/de/arbeitspapiere/2018/nato-osterweiterung-gab-es-westliche-garantien

 

Obgleich auch die Forschung keinerlei Hinweise auf irgendwelche Vereinbarungen oder Zusagen gefunden hat, hält sich die Kreml – Legende gerade im sich hochmoralisch wähnenden Deutschland hartnäckig.

 

Eine weitere, weit verbreitete Legende ist, dass der Kreml sich vor der Nato fürchtet, sich „eingekreist“ fühlt, „legitime“ Sicherheitsinteressen habe, denen andere Länder eben geopfert werden müssten.

 

In der Tat ist die angebliche Furcht vor der Nato genau die Propaganda der russischen Führung im eigenen Land. Auch hier fehlt der Legende jedoch die reale Tatsachengrundlage, weil bereit 2008 die NATO den Antrag auf Mitgliedschaft der Ukraine ablehnte. https://de.wikipedia.org/wiki/NATO-Ukraine-Charta#:~:text=Im%20April%202008%20lehnte%20ein,Plan%2C%20MAP)%20erf%C3%BCllt%20werden.

 

Man kann darüber spekulieren, ob diese Entscheidung weise war. Wäre sie anders ausgefallen, gäbe es wahrscheinlich den heutigen Konflikt nicht. Dies lässt sich nicht mehr ändern, festzuhalten ist allerdings, dass die Annexion der Kim und die Besetzung der Ostukraine durch Russland nicht nur ein völkerrechtswidriger Einmarsch war, sondern auch durch angebliche Furcht vor der NATO gerade nicht begründet werden kann.

 

Die Kreml – Legenden, die in Deutschland auf sehr fruchtbaren Boden fallen, halten einer Überprüfung also nicht stand. Es ist zudem höchst überraschend, dass einerseits Putin für rational und gut informiert, andererseits aber für so dumm gehalten wird, den schwachen, überalterten und wohlstandsverwöhnten Westen für einen Aggressor zu halten. Tatsächlich dürfte es viel eher die realistische Einschätzung der westlichen Schwäche sein, die sein Handeln diktiert, nicht aber Furcht. Er erkennt, dass er die russische Macht – und Einflusssphäre mit relativ geringem Risiko und Kosten erweitern kann.

 

Was Beobachter hierzulande oft übersehen, ist der Umstand, dass Russland nicht nur durch militärische Aggressionen gegen die Ukraine und eine Drohkulisse gegen Georgien aufgefallen ist. Vielmehr baut Russland seit mehr als 10 Jahren eine ähnliche Drohkulisse gegen die NATO – Staaten Estland, Lettland, Litauen und Polen auf. Putin hat in den letzten 20 Jahren kontinuierlich das Militär modernisiert, wobei sich die militärische Bedrohung im Ostseebereich gegen die baltischen Staaten, Polen, Finnland sowie Schweden und indirekt auch Deutschland richtet. Die russischen Truppenaufmärsche in der Größenordnung von 100.000 Mann z. B. im Rahmen der Übungen Zapad (2013, 2017, 2021) oder mit unprovozierten Aufmärschen wie jetzt gegen die Ukraine hat Russland demonstriert, dass es in der Lage ist, die baltischen Staaten nach relativ kurzer Vorbereitungszeit zu besetzen und gegen Rückeroberungsversuche der NATO zu verteidigen. Aus gutem Grund aus hat unser freiheitsliebender Nachbar Schweden in den letzten Jahren enorm aufgerüstet, https://www.fr.de/politik/schweden-ruestet-gegen-russland-auf-90076396.html

 

ebenso wie Finnland https://www.welt.de/politik/ausland/article162152529/Finnland-stockt-seine-Armee-um-50-000-Mann-auf.html, das nun sogar einen NATO – Beitritt erwägt https://www.deutschlandfunk.de/abschied-von-der-neutralitaet-finnland-und-nato-beitritt-100.html.

 

Unsere Nachbarn sehen also die Gefahr und versuchen wie beim Thema Migration, ihre Grenzen zu schützen und zu verteidigen.

 

Das russische Militär versucht hingegen, Teile des Ostseeraums zu sperren. Auch Nordstream 2 kann im Rahmen der hybriden Unterwasserkriegsführung, der „seabed warfare“, genutzt werden. Ursprünglich wurde darunter die Störung/Manipulation von Unterseekabeln verstanden, welche 99 % des globalen Datentransfers abwickeln. Mittlerweile geht es Russland um die umfängliche Nutzbarmachung des Meeresbodens und der Wassersäule als alternativen militärischen Operations -, Navigations – und Kommunikationsraums. Die dafür nötige Infrastruktur wie passive Sonarnetzwerke oder Sensor – Transmitternetze zur Kommunikation muss bereits vor einem Konflikt installiert sein. Über die strategisch höchst bedenkliche Abhängigkeit Deutschlands von Russlands Energielieferung hinaus ist also Nordstream 2 auch unter Sicherheitsaspekten äußerst fragwürdig.

 

Prof. Dr. Joachim Krause, der Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel und Herausgeber der Zeitschrift für strategische Analysen SIRIUS, schreibt:

 

„Was wir derzeit erleben ist das, wovor Experten für Russland und für internationale Sicherheit – und vermutlich auch der Bundesnachrichtendienst – seit über einem Jahrzehnt warnen. Spätestens seit der Rede des russischen Präsidenten Wladimir vor der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2007 ist klar, dass Russland die Konfrontation mit dem Westen sucht und einen revisionistischen Kurs eingeschlagen hat. Der russische Revisionismus zielt auf die Umkehrung jener politischen und militärstrategischen Veränderungen ab, die in den Jahren zwischen 1990 und 1992 zu einem deutlichen Verlust des imperialen Besitzstands Russlands geführt hatten.

 

Die hauptsächlichen Instrumente dieser Politik sind der Aufbau einer – auch nuklearen – militärischen Drohkulisse, die politische Kriegführung … und der Einsatz von Energieträgern zur politischen Erpressung. Russland-Kenner haben wiederholt auch davor gewarnt, dass die Risikobereitschaft des Kremls in dem Maße wachsen wird, wie seine militärische Kraft (und diejenige Chinas) größer wird und die westliche Staatengemeinschaft nicht entsprechend darauf mit eigenen militärischen Maßnahmen reagiert.

 

All diese Warnungen wurden von der deutschen Regierung konsequent ignoriert. Die Folge ist, dass wir heute mit einer Situation konfrontiert sind, die jener der Sudetenkrise von 1938 ähnelt. Damals stellte Adolf Hitler die Existenzberechtigung der Tschechoslowakei in gleicher Weise in Frage wie die heutige russische Führung die der Ukraine. Putin ist zwar nicht Hitler, das hält ihn aber nicht davon ab, dieselben perfiden Erpressungsversuche gegen die westliche Staatengemeinschaft zu unternehmen, die glaubt, alle Probleme mit Diplomatie, Rüstungskontrolle und gutem Willen lösen zu können. Hitler hat die Tschechoslowakei zur Geisel genommen, Putin die Ukraine.

 

Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Koalitionspartner von SPD und FDP haben sich über ein Jahrzehnt lang über diese Bedenken hinweggesetzt. Diese Bedenken wurden auch immer wieder von Politikern verbündeter Staaten an sie herangetragen und sind in NATO-Kommuniqués festgehalten, die auch die Unterschrift der früheren deutschen Bundeskanzlerin tragen. Die Bundesregierung hat – im Einklang mit Paris – dennoch stur an ihrer auf „Dialog“ und „Partnerschaft“ setzenden Russlandpolitik festgehalten. Dies war bequem, entsprach dem Harmoniebedürfnis vieler Deutschen und fand den Zuspruch von einem relativ kleinen, aber politisch aktiven Teil der Wirtschaft.”

 

https://www.reservistenverband.de/magazin-loyal/die-russische-herausforderung-und-der-westen/ Dr. Joachim Krause ist Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel und Herausgeber der Zeitschrift für strategische Analysen SIRIUS.

 

Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis und Putin beweist das gerade. Falls er die Ukrainer mit „russischem Frieden“ überschüttet und seine Truppen einmarschieren lässt, wird ihm große ukrainische Gegenwehr gewiss sein. Doch die NATO wird nicht in der Ukraine kämpfen. Sie wird die an der ukrainischen Grenze liegenden Mitgliedstaaten vertragsgemäß schützen und ist aufgerufen, der Ukraine umfassende Materialhilfen zukommen zu lassen. Definitiv nicht für einen Angriff auf Russland, wohl aber zur Verteidigung gegen einen möglichen russischen Angriff.

Das alles weiß der nüchtern kalkulierende KGB-Mann in Moskau. Er kann sich auf die Passivität der NATO in der Ukraine verlassen, bläst aus innenpolitischen Gründen aber genau die nichtreale Gefahr auf – damit seinen Russen Angst machend und seine Jünger in der Europäischen Union in Wallung bringend. Schuld an dieser Situation tragen stärker die Weicheier im Westen als der brutale Macho im Osten. Auf dessen Worte ist Verlass. Wer ihn umschmeichelt statt immer Klartext mit ihm zu reden, schafft genau die aktuell durchaus gefährliche Situation. Der Westen muss dem Herrscher in Moskau klarmachen, er bestimmt nicht, welcher Staat bei und mit wem seine Sicherheit organsiert. Das alles ist kein Kampf gegen Russland, es ist die Garantie der Sicherheit von Russlands Nachbarn und Russlands selbst. Dabei ist Reden im Sinne Willy Brandts genauso wichtig wie das Handeln Helmut Schmidts im Rahmen von Gleichgewichtspolitik. Bei alledem unterscheidet sich die Situation von der zu Brandts und Schmidts Zeiten in der größeren Zahl von Telefonen. Es gibt nicht mehr nur das Telefon in Moskau. Die Telefone in Vilnius, Riga, Tallinn, Warschau, Prag, Bratislava, Budapest, Sofia, Bukarest sind genauso wichtig wie die in Kiew, Tiflis und Moskau! Der Frieden ist nur sicher mit all diesen Staaten bei Achtung von deren Sicherheitsvorstellungen und natürlich nicht gegen die Sicherheit Russlands. Niemand im Westen will Russland angreifen. Der Westen will aber auch wissen, dass Russland die Grenzen nach 1989 nicht revidiert.

Der „Ribbentrop-Molotow-Pakt“ ist schreckliche Geschichte und wird nicht erneuert. So wie auch die „Breschnjew-Doktrin“ seit 1985 nicht mehr gilt und durch Putin keine Erneuerung erfahren darf.

Zwei Abschlußbemerkungen

 

Krieg
Im Moment kursiert im Internet ein Video mit Ben Becker. Darin liest er Jewtuschenkos „Meinst du, die Russen wollen Krieg?“. Natürlich wollen die Russen keinen Krieg, so wie auch die Völker innerhalb der NATO und in der Ukraine keinen Krieg wollen. Die Antwort auf Becker/Jewtuschenko lautet:

„Meinst du, die Balten, die Polen, die Slowaken, die Ungarn, die Bulgaren, die Rumänen, die Ukrainer wollen überfallen werden?“

Putins mögliches „Aha Erlebnis“
Viel gehörte wahrlich nicht dazu, in Wladimir Putin die alten Sowjetfeindbilder über den imperialistischen Westen wieder aufleben zu lassen. Die großen Demonstrationen in den 2000er Jahren hatten diesbezüglich möglicherweise katalytische Wirkung in des Geheimpolizeimannes Vorstellungswelt. Nicht nur Hunderttausende Russen demonstrierten gegen ihn, unter den Demonstranten befanden sich nicht wenige grünlinksliberale Politiker aus der Europäischen Union und vor allem aus Deutschland. Für einen KGB-Mann wie Putin war das der (willkommene?) Beweis der westlichen Rädelsführerschaft der Umsturzbewegung gegen seine Herrschaft. Für KGB und MfS waren und sind Freiheitsbewegungen immer von außen angestiftete Konterrevolutionen. Untertanen und selber denken? Für Wladimir Putin ist das nicht unvorstellbar.


Die Welt, 18.02.2022: "Archivfund-Was-die-Notiz-ueber-die-Nato-Osterweiterung-bedeutet"

 

 

1985 hob Gorbatschow die Breschnjew-Doktrin auf. Damit verzichtete die Sowjetunion auf ihr vermeintliches Recht, schwierigen Bruderstaaten militärisch zu Hilfe zu eilen. CSSR 1968 war ein schlimmes Beispiel dieser Art Bruderhilfe. Gorbatschow bestätigte nach 1989 mehrfach, dass jeder Staat selbst über seine Sicherheitspartnerschaften entscheiden kann.

Als Chrobog im März 1991 seine Notizen machte, gab es die Sowjetunion noch. Die vermeintliche deutsche Zusage, Polen ua. irgendwann nicht in die NATO aufzunehmen, war eine deutsche Aussenamtsaussage des Sommers 1990 und bezog sich ausschließlich auf die Fragen der Deutschen Einheit. Für die NATO konnte das deutsche Außenamt nicht sprechen. Nicht einmal der deutsche Bundeskanzler war dazu berechtigt, der Chrobogs/Genschers zeitweilige Auffassung auch nicht mittrug.

Die Chrobog-Notiz bezieht sich auf Gespräche des deutschen Außenamtes mit sowjetischen Regierungsvertretern. Die Sowjetunion wurde aber Ende 1991 aufgelöst und an ihre Stelle trat die Gemeinsschaft unabhängiger Staaten/GUS. Das Hauptquartier der GUS war Minsk. Also nicht Moskau! Damit war klar, Russland ist einer von vielen Nachfolgestaaten der Sowjetunion und nicht der Haupterbe. Der russische Präsident ist weder Nachfolger der sowjetischen Regierung, noch kamen 1990 irgendwelche Vereinbarungen der 2+4-Verhandlungen mit Russland zustande. Wladimir Putin kann nicht einfordern, was mit seinem Staat nicht vereinbart wurde.

Nach der Auflösung der Sowjetunion traten die Schutzforderungen der baltischen Staaten und Polens massiv an die NATO heran. Da die Sowjtunoin und der Warschauer Pakt nicht mehr bestanden, lag auch im Sinne von Gorbatschows Aufhebung der Breschnjew-Doktrín offen für den Beitritt ehemaliger sowjetischer Kolonien zu NATO.

Rusland ist nicht die Sowjetunion. Wir sollten alles tun, Putins Fama nicht zu verstärken. 

https://www.welt.de/geschichte/article237005361/Archivfund-Was-die-Notiz-ueber-die-Nato-Osterweiterung-bedeutet.html

 

Arnold Vaatz, am 17.02.2022

Lieber Gunter,

der Beitrag ist absolute, einsame Klasse.

Du mußt ihn veröffentlichen: Züricher Weltwoche, Achgut, Tichy, Reitschuster: Überall.

Gruß Arnold

 

Wolfgang R.
                                                                                                                          18.Februar 2022

Lieber Gunter,

hier noch einige Gedanken zu Deinem sehr schönen und treffenden Artikel, den Du mit Anette Heinisch verfasst hast. Ich stelle den Text auch noch bei Telegram ein.

 

Heute bin ich erst dazugekommen, den Artikel „Meinst Du, die Polen, Balten und Ukrainer wollen überfallen werden?“ von Dir und Anette Heinisch zu lesen. Da steht eigentlich alles drin, um nicht der Kreml-Propaganda zu verfallen, wonach Russland von der NATO umstellt und bedrängt werde. Ebenso kann ich Dein Statement von heute voll und ganz unterstreichen. So ähnlich habe ich Russland vor allem als Besatzungsmacht auch erlebt. Das Gleichnis vom gewalttätigen Krakeeler in der Straßenbahn ist überaus treffend.

Es wurden in Russland und in Deutschland zwei völlig entgegengesetzte Legenden hervorgezaubert. Nämlich, dass Russland eben von der NATO umstellt, Deutschland aber von Freunden umzingelt sei („Bruder Johannes“ zum 8. Mai 2005: „Wir sind doch von Freunden umzingelt“). Letzteres trifft bei den meisten Nachbarn zu, nur bei einem nicht, der zudem nicht unmittelbar an unser Land angrenzt und vielleicht deshalb bei der Umzingelei gern übersehen wird, trotz seiner durch die seit Jahren schwelende Ukrainekrise deutlich sichtbar gewordenen militärischen Dominanz und dem inzwischen unheimlichen Drohpotenzial.

Man muss hier einmal einen kompletten Perspektivwechsel in diesem Deutschland der Friedensfreunde vornehmen: Heute bilden die osteuropäischen Staaten, von den baltischen Ländern und Polen im Norden bis Rumänien und Bulgarien im Süden, eine Pufferzone für dieses sich zunehmend selbst in Frage stellende Westeuropa gegenüber einem immer aggressiver auftretenden Russland. Fällt diese Pufferzone weg, aus welchen Gründen auch immer, dann ist der Weg frei von Moskau bis an den Atlantik. Ein alter Traum des Josif Wissarionowitsch Dschughaschwili bekäme reale Konturen (zu seiner Zeit war Deutschland dieser Puffer).

Wer glaubt, Putin würde Halt machen, wenn er mit der Ukraine fertig ist, dürfte sich arg täuschen. Und irgendwann wird er mit der Ukraine fertig sein, wohl weniger durch Invasion und Komplettbesetzung, sondern eher durch mehr oder weniger umfassende militärische Operationen und Destabilisierungsaktionen mit dem Ziel der Einsetzung einer Marionettenregierung. Weil im sogenannten Westen niemand bereit sein wird, der Ukraine wirklich beizustehen, ist anzunehmen, dass das früher oder später gelingt. Die jüngsten Forderungen aus dem Kreml, wonach die NATO ganz Osteuropa verlassen solle, offenbaren derweil das eigentliche Ziel der russischen Aktivitäten: die Zerstörung der Pufferzone, um den Traum des Josif Wissarionowitsch, der sich selbst Stalin nannte, der Realität ein Stück näher zu bringen.

Noch ein Wort zur Bundeswehr in diesem Zusammenhang: Diese Armee des deutschen Staates wurde in den zurückliegenden 20 Jahren ihrer wesentlichen Fähigkeiten zur Landesverteidigung zu Gunsten von Auslandseinsetzen in Krisengebieten außerhalb ihres eigentlichen Einsatzgebietes entkleidet. Eingezwängt zwischen geschichtspolitisch motiviertem Traditionsabbruch, genderpolitischen Transformationsversuchen und Unterfinanzierung ist die Bundeswehr heute kaum mehr in der Lage, ihr Staatsgebiet zu verteidigen. Dafür werden solche Niederlagen wie in Afghanistan mit vielen deutschen Gefallenen hingenommen, der bald schon das nächste Debakel in Mali folgen wird. Nein – diese Bundeswehr ist zu keiner Zeit voll einsatzfähig und schon gar nicht verteidigungsfähig. Sie ist in keiner Weise mit Armeen wie in Frankreich oder Großbritannien vergleichbar.

 

Danke und viele Grüße auch an Anette Heinisch

Wolfgang

 

Gerold Hildebrand am 18. Februar 2002

Ich muss leider mit früheren Mitstreitern debattieren, die mittlerweile entweder den Fundamentalpazifismus rauskehren oder gar antiamerikanistische Putinversteher geworden sind. Da ist der wunderbare Text von Gunter mit Annette Heinisch, den ich jetzt schon öfter verbreitet habe, eine sehr gute Argumentationshilfe.

Gut, dass auch in herkömmlichen Medien auf die Gefahren hingewiesen wird, dass es eben nicht nur um die Ukraine geht.
Aktuelle Einschätzungen und Entwicklungen:

https://www.tagesschau.de/ausland/europa/russland-ukraine-161.html

„Ziel sei, die Zuverlässigkeit der strategischen Nuklearwaffen zu testen. Die Armee will demnach ballistische Raketen und Marschflugkörper abfeuern. …

In der Ostukraine hat es nach Darstellung von Regierung und Separatisten erneut Angriffe gegeben.“

 

https://amp.n-tv.de/politik/Vielleicht-ist-Putin-gar-nicht-mehr-erreichbar-article23135957.html

„Seit dieser Woche behauptet Russland, es würde Truppenteile von der ukrainischen Grenze und der Krim abziehen. Was der Westen sieht, sind hingegen Aufstockungen, 7000 weitere Soldaten seien im Grenzgebiet angekommen. Was bedeutet das und welcher Ablauf wäre für einen Krieg denkbar? …

Wenn Russland sagt, "wir marschieren jetzt bei Mariupol im Süden ein und erweitern den Donbass", dann ist die Reaktion entscheidend. Gibt es dann von westlicher Seite keine oder nur schwache Sanktionen, dann stellt der Kreml fest: "Prima, das hat geklappt, genauso wie 2014 oder 2008. Dann gehen wir jetzt doch einfach noch ein Stück weiter."“

 

https://www.spiegel.de/ausland/news-wladimir-putin-ukraine-russland-sicherheitskonferenz-anthony-blinken-a-b554c9bc-dfcd-4642-bc78-46eb911df45b-amp

„Es geht aber – und das ist vielen Menschen in diesen Tagen nicht bewusst – um so viel mehr als um die Ukraine. Russland hat gestern ultimativ den Rückzug aller US-Truppen aus den Nato-Mitgliedstaaten in Südosteuropa und Ostmitteleuropa verlangt: Es geht also letztlich um einen russischen Hegemonialanspruch über weite Teile Europas. Das sollten all jene bedenken, die glauben, die Sache sei ausgestanden, wenn man nur der Ukraine die Nato-Mitgliedschaft verweigere. …

Ist es Zufall, dass einer von Wladimir Putins zuverlässigsten Fürsprechern in Deutschland, der Linken-MdB und frühere SED-Vorsitzende Gregor Gysi, diese Woche bereits russische Desinformation über die angeblich bedrohten russischsprachigen Bürger in der Ukraine im Bundestag verbreitete?“

 

Und hier ein Hinweis auf geheime nicht minder gefährliche Kriegsführung:

 

https://www.tagesschau.de/investigativ/br-recherche/russische-hacker-103.html?fbclid=IwAR21ZkebSIO5GSoiMiNbCljBCxEjzEVr4AdDWUnsduUhw-3vYSwFc6zkDHs

„Die Hacker der Gruppe "Snake" gelten als gefährliche Cyberspione - auch in Deutschland haben sie zugeschlagen. Aber wer steckt dahinter? BR und WDR-Recherchen zeigen: Spuren führen zum russischen Geheimdienst FSB. …

Ende 2017 fiel der Hack auf: "Snake" hatte das IT-System der Hochschule des Bundes im nordrhein-westfälischen Brühl gehackt. Die Hochschule war aber offenbar nur das Einfallstor, von dort arbeiteten sich die Hacker dann zu ihrem wohl eigentlichen Ziel vor: dem Netz des Auswärtigen Amtes in Berlin. Dort erbeuteten die Hacker auch Dokumente, in denen es um die Osteuropa-Politik der Bundesregierung ging. …

Dabei sind sie auf mehrere Personen gestoßen, die offenbar Schadsoftware für "Snake" entwickelt haben. Es handelt sich um russische Staatsbürger - von ihnen führen weitere Spuren zum russischen Inlandsgeheimdienst FSB. …

 

Der zweite mutmaßliche Entwickler Urik machte zumindest in einem Interview keinen Hehl draus, dass er für den FSB gearbeitet hat. Er habe sich mit Computer-Spionage befasst. In einer Präsentation wird außerdem ausgeführt: Urik arbeitete ebenfalls für die Firma Center-Inform, im Auftrag des FSB.“

 

Beste Grüße 
Gerold 



 

Jörg Gebauer 19.02.2022:

 

In einer Gesamtbewertung liegt Putin eindeutig falsch, wenn er auch durchaus gewichtige Argumente vortragen kann. Entscheidend ist aber immer eine Gesamtbewertung. Folgender Film - mit weiter unten noch angefügten zusätzlichen Quellen - soll allen Interessierten zur Erhellung dienen.
 
Wurde Russland in der NATO-Frage getäuscht?
Vor 32 Jahren klärten der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow die noch offenen außenpolitischen Fragen zur Beendigung der Teilung Deutschlands: Würden die Sowjets zustimmen, dass das vereinigte Deutschland in der NATO bleibt?
Was beim Treffen von Gorbatschow und Kohl im Kaukasus jeweils versprochen wurde, beleuchtet die Dokumentation "Poker um die deutsche Einheit – Wurde Russland in der NATO-Frage getäuscht?", eine erste Koproduktion von ZDFinfo und phoenix. Filmautor Ignaz Lozo konnte dafür erstmals am Ort der Verhandlungen drehen: in der Datscha von Michail Gorbatschow.
Es ist ein brisanter Streitfall: Wurde der Sowjetunion im Zuge der Verhandlungen über die Deutsche Einheit im Jahr 1990 tatsächlich versprochen, die NATO würde Richtung Osten nicht expandieren?
Präsident Putin begründet das russische Vorgehen in der Ukraine und bei der Annexion der Krim auch mit den angeblich gebrochenen Versprechen des Westens. So werden historische Ereignisse vor bald 32 Jahren zu einer explosiven Streitfrage heutiger Außenpolitik. Es wird sogar schon von einem neuen Kalten Krieg gesprochen.
 
In der Dokumentation "Poker um die Deutsche Einheit" kommen entscheidende Verhandlungspartner und maßgebliche Zeitzeugen aus Ost und West zu Wort, zum Beispiel Michail Gorbatschow.
Die Spurensuche an den historischen Orten der Einheitsverhandlungen von 1990 wird angereichert durch exklusives, bislang nicht gesendetes Filmmaterial des Kohl-Besuchs im Kaukasus.
Der Film widerlegt politische Mythen rund um die brisante Streitfrage, ob der Westen damals gegebene Versprechen zur NATO-Osterweiterung später gebrochen hat.
Folgend: „Der Wortbruch ist eine Legende“:: Das INTERVIEW mit dem Filmautor Ignaz Lozo. Er spricht mit Daniela Greulich über das Treffen von Gorbatschow und Kohl im Kaukasus vor 25 Jahren:
Herr Lozo, als erster westlicher Fernsehjournalist durften Sie mit Ihrem Team in der sogenannten Gorbatschow-Datscha drehen und dort sogar übernachten. Wie haben Sie in Helmut Kohls Bett geschlafen?
Ich kann ohne Übertreibung sagen, dass ich auswärts noch nie so gut geschlafen habe. Das Zimmer war sehr schön, das Bett bequem. Durch das offene Fenster hörte ich das leise Rauschen des Flusses und roch die gute Bergluft. Über die schöne Atmosphäre schreibt auch Kohl in seinen Memoiren und schildert, wie angespannt er am Vorabend der Verhandlungen war.
 
Wie sind Sie an die Drehgenehmigung gekommen?
Das Anwesen in Archys war damals eine Staatsdatscha der Sowjetunion und es herrschte Geheimhaltung über die Gäste. Heute ist sie dem Präsidialamt von Wladimir Putin unterstellt. ARD-Moskau-Korrespondent Gerd Ruge durfte vor 25 Jahren nur im Außenbereich drehen, dort entstanden die berühmten Bilder vom Spaziergang am Fluss und an der Sitzgruppe aus Baumstümpfen. Ich habe mich lange und intensiv auf Russisch um eine Drehgenehmigung bemüht und argumentiert, dass ich mehr Historiker als Journalist bin. Schließlich bekam ich die Zusage – die dann einen Tag vor der Weiterreise von Moskau nach Archys wieder zurückgezogen wurde. Das sei nicht seriös, protestierte ich. Eine Stunde später kam dann der erlösende Anruf, dass der Dreh doch möglich sei.
Wie sieht die Datscha aus?
 
Das Wort Datscha erweckt einen falschen Eindruck. Es ist eher ein kleiner Palast, vielleicht so groß wie drei Einfamilienhäuser. Trotzdem war ich erstaunt, dass die Einrichtung nicht luxuriös ist. Das Essen wird zum Beispiel in einer Art Bauernküche zubereitet. Die Hauswirtin arbeitet dort seit Eröffnung des gut abgeschirmten Gebäudes 1978 und hat erzählt, dass sich seither am Interieur nichts verändert hat. Ich bekam also wirklich den historischen Anblick, es war so, als ob die Zeit stehengeblieben ist. Zeitgleich mit mir wohnten dort die Ehefrauen von vier Kreml-Ärzten. Diese baten mich zum Abendessen an ihren Tisch. Voller Ehrfurcht habe ich Platz genommen – nicht wegen der vier Frauen, sondern wegen des Tisches. Denn an ihm verhandelten vor 25 Jahren die deutsche und die sowjetische Delegation.
Gorbatschow und Kohl erzielten dort den Durchbruch bei den Verhandlungen zur deutschen Einheit. Nach der Krim-Annexion gibt es die brisante Streitfrage, ob Russland in der Frage der NATO-Osterweiterung vom Westen getäuscht wurde. Sie hatten Gelegenheit, unter anderem mit Gorbatschow, dem ehemaligen deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Ex-US-Außenminister James Baker exklusive Interviews zu führen. Was sagen die dazu?
 
Der Wortbruch ist eine Legende. Selbst die sowjetische Seite sagt, dass der Zwei-Plus-Vier-Vertrag erfüllt worden ist. Die NATO-Osterweiterung war in den Verhandlungen damals gar kein Thema. Den Warschauer Pakt gab es damals noch. Für Gorbatschow wäre es absurd gewesen, über eine Auflösung zur sprechen. In den Verhandlungen ging es einzig und allein um die Bündniszugehörigkeit eines wiedervereinigten Deutschland. Das bestätigen fast alle Gesprächspartner und das belegt auch der Zwei-Plus-Vier-Vertrag. Nur Falin sieht das anders und beruft sich auf erste mündliche Absprachen. Aber er war an den späteren Verhandlungen gar nicht beteiligt, weil ihn Gorbatschow nicht mehr einbezog.
 
Sie sind für den Film in den Kaukasus, nach Moskau, Houston, Berlin, München und Bonn gereist. Mit wem haben Sie alles gesprochen?
Ich habe insgesamt zehn Interviews geführt. Neben Gorbatschow, Genscher und Baker unter anderen mit Gorbatschows Berater Valentin Falin und dem damaligen sowjetischen Verteidigungsminister Marschall Dmitri Jasow. Außerdem habe ich auch mit John Kornblum gesprochen, der damals US-Vertreter bei der NATO war, mit ARD-Moskau-Korrespondent Gerd Ruge und Klaus Blech, dem deutschen Botschafter in Moskau. Ihm habe ich viel zu verdanken. Denn Blech hat damals mit einer Video8-Kamera Privataufnahmen gemacht, die er mir zur Verfügung gestellt hat. Er drehte zum Beispiel die Anreise mit dem Hubschrauber und auch den Zwischenstopp auf einer Kolchose, wo Gorbatschow Kohl einen Blick in seine Vergangenheit gewährte und die beiden auf einen Mähdrescher kletterten. Gorbatschows Credo war: Nur mit Vertrauen lässt sich gute Politik machen. Das Filmmaterial war noch nie zu sehen.
 
Welche Aussagen waren für Sie am eindrücklichsten?
Hans-Dietrich Genscher schildert einen sehr emotionalen Moment der Verhandlungen. „Als wir zu dem bekannten Treffen am Fluss gingen, griff die Frau Gorbatschow plötzlich von hinten meine Hand, zog mich zurück und sagte: Wissen Sie, was mein Mann hier tut? Deutschland muss seine Verantwortung auch wahrnehmen, die Zusagen auch einhalten.“ Da habe er geantwortet: „Darauf können Sie sich verlassen. Das war die fürsorgende, politisch denkende Ehefrau.“ 1990 war der Zweite Weltkrieg noch nicht lange vorbei, Deutschland hatte unendlich viel Leid über die Menschen in der Sowjetunion gebracht. Doch das Land war bereit, seine Kriegsbeute, die DDR, zurückzugeben und hat die Hand zur Versöhnung gereicht. Das war eine große Geste.
Wieso ist das Treffen eigentlich als „Strickjacken-Treffen“ in die Geschichte eingegangen? Auf den berühmten Bildern trägt nur Kohl eine Strickjacke, Gorbatschow aber einen Pullover.
Das stimmt. Aber bei den eigentlichen Verhandlungen am nächsten Morgen in der Datscha hatten beide Strickjacken an. Sie zogen sich allerdings beide noch einmal um, bevor sie nach dem Abschluss der Gespräche zur Pressekonferenz ins 200 Kilometer entfernte Schelesnowosk aufbrachen und in Anzügen die historischen Gesprächsergebnisse verkündeten.
 
Ignaz Lozo ist promovierter Osteuropahistoriker und ehemaliger Russlandkorrespondent. 2014 legte er das wissenschaftliche Fachbuch „Der Putsch gegen Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion“ vor, das als Standardwerk gilt und auch ins Russische übersetzt wurde.
 

Richard Schröder:

 

Welt online 20.02.22

 

Archivfund

 

Was diese Notiz über die Nato-Osterweiterung tatsächlich bedeutet

 

Laut einer Akte im britischen Nationalarchiv sagte ein deutscher Diplomat am 6. März 1991, die Nato nicht „ausdehnen“ zu wollen. Doch eine Bestätigung von Putins These, der Westen habe Russland „verraten“, ist das keineswegs.

 

Stand: 17:38 Uhr …

 

 

 

Leserbrief

 

Richard S.

 

vor 22 Minuten

 

Das Wort Elbe in der Aktennotiz ist kein Druckfehler. Eine Verwechslung mit der Oder liegt nicht vor. Es ging um die Frage, ob sich das Gebiet der Nato durch die deutsche Vereinigung erweitert. Die Zusage: nicht über die Elbe besagte: auf dem Gebiet der ehemaligen DDR werden nur Truppen der Bundeswehr, aber keine, die der Nato unterstehen und keine anderer Natostaaten stationiert. Das wird bis heute eingehalten, obwohl es nach Polens Beitritt zur Nato sinnlos ist. Die Oder war doch vom 3. Oktober 1990 an die Westgrenze des Warschauer Paktes. Darüber, was nach dessen möglichen Zerfall geschieht, hat man doch damals keine Vereinbarungen getroffen. Auch nach dem Beitritt befanden sich ja auf dem Gebiet der DDR noch einige Jahre ca. 380.000 sowjetische Soldaten. Amerikanische Kasernen neben sowjetischen Kasernen in den Neuen Bundesländern wurde durch jene Zusage ausgeschlossen - vernünftigerweise.