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Sarrazin: Die SPD im falschen Film

Die SPD im falschen Film

Klappe, die erste
September 2007. In den Räumen der „Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft“ in Berlin. Die SPD-Haushälter beraten in jährlicher Regelmäßigkeit ihre Linie für die kommenden Beratungen über den Bundeshaushalt des kommenden Jahres. Hinzugeladen sind wie immer die SPD-Länderfinanzminister. Hauptreferent der SPD-Länderseite ist in diesem Jahr der Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin.
Soweit so gut. Ein übliches Verfahren und die Kollegen sind gespannt, wie Sozialdemokrat Sarrazin die aktuelle und kommende Finanzlage Berlins einschätzen würde. Er gilt zu jener guten alten SPD-Zeit als kluger und vorausschauender Fachmann, der wie Hans Eichel und später wie Peer Steinbrück solide Finanzpolitik in Berlin umsetzen wollte. Die SPD ist noch der Auffassung, dass Wahlen in der Mitte und mittels erfolgreicher Wirtschafts- und Finanzpolitik, die eine weitblickende Sozialpolitik ermöglicht, gewonnen werden. Thilo Sarrazin sieht das ebenso und befindet sich damit auf Mehrheitsseite in der SPD.

Klappe, die zweite
Gleiches Szenario. Thilo Sarrazin beschließt seine bis dahin wohlmeinend aufgenommen Erläuterungen mit einem längeren Statement zur desaströsen Berliner Migrationspolitik -desaströs hinsichtlich von Gegenwart und Zukunft.
Sarrazins Sorgen umkreisen Finanzierbarkeit und Erhalt des Sozialstaates vor dem Hintergrund der Notwendigkeit gelungener Integration – ein durch und durch sozialdemokratischer Ansatz (2020 längst vergangener Zeiten)!

Berlins Finanzsenator bietet harte Kost: Zahlen, Defizite, zum Platzen verurteilte Multikulti-Träume. Schwerpunkt seiner Ausführungen sind vor allem die Defizite in der Bildungspolitik. Größte Sorgen machten ihm dabei die muslimischen Mädchen, die er vor dem Schicksal unwissender, unselbständiger, unsichtbarer, höriger und der muslimischen Männerwelt untertäniger Frauen nachhaltig bewahren will. Thilo Sarrazin sieht in exzellenten Bildungschancen, die der Staat vorhalten und den Zugang dazu strikt absichern muss, die Gegenwarts- und Zukunftsaufgabe für eine erfolgreiche wie tragfähige Migrationspolitik. Kein Wort von „Die müssen raus“ oder ähnlichen verkommenen Ansätzen. Im Gegenteil. Diese Menschen sind hier und wir müssen sie fördern und fordern, damit sie und ihre Nachkommen tatsächlich selbstverständlich zu Deutschland gehören! So Sozialdemokrat Sarrazin in der Runde des SPD-Haushälter 2007. Die wohlmeinende Mehrheit gibt es in der Runde immer noch, nur ist sie jetzt kleiner geworden. Sarrazins Zahlen und Projektionen stehen nicht in der Kritik, Zahlen und korrektes Rechnen gelten in der SPD noch nicht der Rechtslastigkeit verdächtig. Die Frage des -wie-damit-Umgehens- verunsichert einige Kollegen.

Klappe, die dritte (nun in der Vergangenheitsform)
In der anschließenden Sitzungspause ging ich zu Thilo Sarrazin, beglückwünschte ihn zu seinen klaren und wichtigen Aussagen und meinte, eigentlich sei das Stoff für ein kluges, auf Zahlen beruhendem Buch. Das Thema musste öffentlich seriös diskutiert werden können. Er nickte und sagte, sowas höre er oft, auch in der SPD.

Selbstverständlich bedurfte es meines Rates nicht für das drei Jahre später erscheinende „Deutschland schafft sich ab“, die Idee hatte der Mann längst selbst im Kopf. Aber ich gehörte 2010 nicht zu den Leuten, die von Sarrazins Bestseller überrascht wurden. Thema, Buch und Warnung vor der Gefahr des Abschaffens lagen seit Jahren in der Luft. Nur der Buch-Titel war offen.

„Deutschland schafft sich ab“…, wenn es sich nicht besinnt! – so verstand ich vor zehn Jahren Thilo Sarrazins Buch als typisch ur-sozialdemokratisches Anliegen. Sagte Ferdinand Lassalle „Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.“ so beschreibt Thilo Sarrazin nunmehr seit vielen Jahren was geht, was nicht geht und was wie gehen könnte, um den Sozialstaat für seine Bewohner erhalten zu können. Wenn das nicht sozialdemokratisch ist, dann gibt es keine Sozialdemokratie. Sozialdemokraten, zumindest erfolgreiche Sozialdemokraten, verstanden sich nie als Gesellschaftsarchitekten, die für eine bessere Welt bessere Menschen brauchen. Chancengleichheit in Freiheit und Demokratie waren Weg und Daueraufgabe, das heutige Umerziehen der Bevölkerung hätten weder Lassalle, noch Bernstein, noch Friedrich Ebert, noch Kurt Schumacher, noch Willy Brandt und erst recht nicht Helmut Schmidt mitgemacht. Selbst mit Gerhard Schröder wäre das nicht zu machen. Die SPD ist genverändert, Thilo Sarrazin ist es nicht. Er ist Sozialdemokrat im besten Sinne - unabhängig seiner Mitgliedschaft in der nunmehr Sozialistischen Partei Deutschlands.

Thilo Sarrazin kommt das Verdienst zu, die deutsche Sozialdemokratie zur Nagelprobe gezwungen zu haben. Was ist ein Sozialstaat, wer braucht ihn, wer finanziert ihn? Dabei ist es doch so einfach, möchte man meinen. Ein funktionierender Sozialstaat bedarf seines eigenen und klar definierten Staatsgebietes. Er organisiert diverse Versicherungen wie Kranken-, Renten-, Arbeitslosen-, Pflege-, Unfallversicherungen, sozialstaatliche Fördermaßnahmen, ein hohes Maß an Steuer- und Abgabengerechtigkeit, Kindergeld, Wohngeld, weitere soziale Leistungen wie Umschulungen, sozialen Wohnungsbau, kostenlosen Besuch in staatlichen Schulen und Universitäten u.v.m. Das gesamte hochkomplexe Gefüge ist zwingend an den Staat in dessen klaren Grenzen gebunden. Keine oder unkontrollierte Grenzen lassen die Ausgaben explodieren und die Einnahmen weit unter einem unbekannt hohen Bedarf stagnieren. Die innerstaatlich definierte Zahl an Steuer- und Sozialabgabenzahlern müsste unbegrenzt in Haftung genommen werden. Eine Demokratie kann das bei Strafe ihrer Abwahl und ihres Untergangs nicht organisieren. Sozialstaaten können hilfsbedürftigen Regionen und Ländern helfen, aber nur in den Maßen, die zwischen den Regierungen und den Regierten beständig demokratisch ausgehandelt werden. Das letzte Wort spricht immer der Souverän in Wahlen. Gewählte sollten das tunlichst im Hinterkopf haben. Verflüchtigt sich der Sozialstaat bei Grenzenlosigkeit, so kollabiert die innere und äußere Sicherheit eines dann grenzenlosen Staates rasant, und er wird zum Freiheits- und Sicherheitsrisiko nicht nur für seine eigenen Bürger. Grenzenlose, gleichsam hilflos wirkende und damit vor Chaos nicht geschützte Staaten verstärken das Elend auf dem Globus (Vgl. „Weltoffenes Deutschland?“/Schröder. Quistorp, Weißgerber bei Herder 2018). Würde Thilo Sarrazin hier widersprechen?

Nicht nur Thilo Sarrazin würde nicht widersprechen. Ich weiß mich an diesem Punkt eins mit großen sozialdemokratischen Bundeskanzlern. Viele weitere Namen fallen mir ein, etliche davon sind wie ich nicht mehr Mitglied der SPD. Wären es nur diese Menschen samt meiner Person, für die Sozialdemokratie wäre das verkraftbar. Es sind aber nicht nur treue Sozis, die von Bord gingen und im Gehen begriffen sind. Wahlergebnisse kommen vor allem durch Wähler zustande. Und genau die fühlen sich von der SPD nachhaltig im Stich gelassen. Das SPD-Experiment „Wahlen ohne Wähler gewinnen“ ist ein Schrumpfkurs, der eine der verdienstvollsten deutschen Parteien an den Rand der Selbstvernichtung treibt. Selbstmord ist politischen Parteien nicht verwehrt. Ein Sinnbild des SPD-Selbstmordes ist der Versuch Sozialdemokraten wie Thilo Sarrazin aus der Sozialdemokratie zu merzen. Möglicherweise kommt an diesem Punkt Rettung für die SPD aus Karlsruhe. Parteien nehmen an der politischen Willensbildung nach dem Grundgesetz teil und sind nicht die Willensbildung. Sie sind dabei der offenen pluralen Gesellschaft verpflichtet und müssen Diskussionen in und außerhalb der Partei aushalten solange einzelne Mitglieder nicht unversöhnlich gegen die Programmatik und Grundsätze verstoßen. Beides nachzuweisen dürfte der SPD vor dem Bundesverfassungsgericht sehr schwerfallen.
Hans-Ulrich Wehler (1931-2014), einer der ehemals renommiertesten Historiker Deutschlands und über Jahrzehnte für die SPD als Sympathisant rührig, schrieb 2010 „Ein Buch trifft ins Schwarze“ und bescheinigte Thilo Sarrazin darin „Ein leidenschaftliches Reformplädoyer“ („Die Zeit“ am  7. Oktober 2010).

Wahlen gewinnen und Rechnen können gehörten bis vor wenigen Jahren zum sozialdemokratischen Grundverständnis in möglichst realer Daseinswahrnehmung. Heute sind Wunsch und Wolke die Konstanten der Esken-, Borjan- und Kühnertschen SPD. Eine Einladung zur Abwahl.

Um an die Überschrift anzubinden: Thilo Sarrazin ist im richtigen, die SPD quält sich im falschen Film.

Der Artikel erschien zuerst leicht geändert unter "Am Rand der Selbstvernichtung" in "Tichys Einblick" Heft 10/2020.