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Multikulti, Einwanderungsland und Sarrazin

                                                              Leipziger Volkszeitung 23.09.2010



Ich gebe es zu. Bis auf die frühen 90er Jahre, in denen ich mich in meiner Partei um die begriffliche Klärung eines Einwanderungslandes ab und an bemühte, ließ ich das Thema Integration eher Links liegen. Die Zahl der Schwerhörigen war groß und es gab aus meiner Sicht Wichtigeres – den Aufbau-Ost und die föderale Verteilung von Bundesinstitutionen zu diskutieren und durchzusetzen. Heute ärgere ich mich, das Thema Einwanderungsland und Integration den guten Menschen mit deren Milchglasblick auf die gesellschaftlichen Folgen ihres guten Tuns überlassen zu haben.


Im Vorfeld der 1993er Asylrechtsänderung im Artikel 16 GG versandte ich in meiner Fraktion einen Brief, in dem ich mich mit der Begrifflichkeit Einwanderungsland auseinandersetzte und eine sachdienliche Diskussion anmahnte. Mein damaliger Tenor ist schnell beschrieben: Meinten die „Deutschland ist ein Einwanderungsland“-Diskutanten, dass Deutschland tatsächlich ein Einwanderungsland sei oder meinten sie, dass Deutschland ein Land sei, in welches viele Menschen einwandern wollen? Hinzu fügte ich, dass im ersteren Fall – also unser Land ein Einwanderungsland sei – sich Deutschland dann auch so verhalten sollte und die SPD dies dann folgerichtig in der gebotenen Stringenz einfordern müsse. Ein Einwanderungsland leidet Mangel an Fachkräften. Deshalb legt ein Einwanderungsland fest, welche und wieviel Menschen mit welcher Qualifikation es in eigenem Interesse benötigt. Mehr nicht, aber auch nicht weniger macht ein klassisches Einwanderungsland aus. In diesem völkerrechtlich gebrauchsfähigen Kontext ist die Bundesrepublik kein Einwanderungsland. Wir legen eben nicht fest, wen wir nach Deutschland holen oder einlassen wollen. Meinten die pro-Einwanderungsland-Verfechter allerdings, dass Deutschland ein Land ist, in welches viele Menschen einwandern wollen, dann hätten sie dies genau so sagen müssen. Das ist Tatsache und macht aus Deutschland doch kein Einwanderungsland, höchstens ein offenes Zuzugsland – so dies überhaupt politisch gewollt und gesellschaftlich toleriert ist.


Thilo Sarrazin analysiert und argumentiert in seinem Buch klar sozialdemokratisch. Es ist die Pflicht eines Sozialdemokatens, zu sagen, was ist, wo die Defizite und die Chancen liegen und wie diese wo ergriffen werden müssen. Dass Sarrazin auch irrt und Nichtjedermann’s Wege geht, gehört zu einem Diskussionsprozess wie diesen.


Was bringt Sarrazin denn alles auf den Diskussionstisch? Was ist schlimm daran, dass er nach den Gründen für massive Bildungsdefizite in großen Teilen der sogenannten Unterschicht und im Migrantenbereich sucht und dies zwangsläufig mit Blick auf die verschiedenen kulturellen und religiösen Hintergründe tut? Es kann doch nur eine Binsenweisheit sein, dass Menschen, die nach Deutschland kommen, sich integrieren wollen müssen? Wie sollen diese Menschen denn überhaupt Chancen auf Teilhabe und Mitmischen haben, wenn sie Grundlegendes über die Majoritätskultur, über die vorherrschende Muttersprache, über Kultur, Geschichte, Religion, Demokratie und Staatsaufbau nicht wissen oder gar nie wissen wollen? Diese Dinge gehören zu den Bringepflichten von Menschen, die kürzer oder länger oder für immer in Deutschland leben wollen! Das so etwas überhaupt beschrieben werden muss, schon dies ist eine Nachricht aus Absurdistan!


Was Sarrazin selbstverständlich auch tut und was seine Kritiker, von denen die meisten sein Buch nicht einmal gelesen haben dürften, völlig verschweigen, sind seine Vorschläge zur Verbesserung der Bildungssituation, die einen großen Teil seines Buches beanspruchen. Kindergartenpflicht, Ganztagsschule, kostenlose Schulverpflegung, Beseitigung des Bildungswirrwarrs im föderalen System – all das ist doch sozialdemokratisch und Sarrazin schließt Niemanden und keine Gruppe davon aus! Nirgendwo tut sich auch mit der größten Böswilligkeit eine Forderung nach „Migranten und Ausländer raus“ auf! Im Gegenteil, wer hier lebt, wird integriert – aber er/sie muss es wollen, muss sich bilden, muss unsere Verfassung über seine Kultur und Religion stellen und muss seinen Beitrag zum Sozialstaat Deutschland leisten wollen. Eigentlich selbstverständlich, oder? Im Gegenzug wird ihm/ihr dieser Sozialstaat die gleichen Chancen bieten, wie allen hier lebenden Menschen.


Die SPD täte gut, kluge und reale Köpfe wie Sarrazin in ihren Reihen zu halten. Im Ausschlussfall würde sie sich ein weiteres Mal geistig ärmer machen. Verleumdungen von oberer SPD-Kanzel wie „Anleitung zur Menschenzucht“ (Gabriel) sind „wenig hilfreich“ (jüngst Frau Merkel über Sarrazin), außerdem ist der abstruse Vorwurf aus seinem Buch nicht heraus lesbar. Meine Partei hatte sich bereits an Wolfgang Clement verheben wollen, aktuell versucht sie dies mit Sarrazin. Okay, kann sie machen. Doch gäbe es noch mehr offene Wunden, die sie allerdings nicht zu maßregeln gedenkt. Ich denke an die innenpolitische gefährliche Diskussion, ob es statt linken und rechten nur rechten Extremismus gibt oder an die Koalitionen mit einer Partei, in deren Mitte jede Menge Gegner des politischen Systems verdorbene Suppen kochen.


Anders als Thilo Sarrazin mache ich mir keine Sorgen um Deutschland, wenn die hier lebenden Menschen mit und ohne Migrationshintergrund Deutsch lernen und sich über Generationen in dieses – dann ihr – Land einbringen. Das Land wird nach dieser Vorstellung Deutschland bleiben. Panta rhei. Das Römische Reich hat es doch mehrere Jahrhunderte vorgemacht. Römer war der, der das römische Bürgerrecht besaß. Und das wurde klug vergeben, Im Cäsarenreich konnten Nichtitaliker wie die Spanier Trajan (unter ihm war Rom geographisch am größten) und Hadrian oder Nordafrikaner wie Septimus Severus Kaiser sein. Der Untergang Roms hatte andere Ursachen so wie sich Deutschland nicht abschafft, wenn alle darauf achten, dass alle zur Sprache, zur Verfassung und zu diesem demokratischen und freien Staat stehen und damit über Generationen zu Deutschen (nur immer etwas anders) werden.


Sarrazin schreibt auch über Gene und hebt dabei ein virtuelles (?) spezielles jüdisches Gen hervor. Was sagt er denn damit? Dass es vielleicht (in Israel laufen diesbezüglich Forschungen) ein jüdisches Gen unter vielleicht 30 Tausend menschlichen Genen gibt – wo ist hier das Problem? Vielleicht gibt es ja sogar ein katholisches Gen oder ein muslimisches? In beiden großen Gruppen wird seit vielen Jahrhunderten geheiratet, werden Kinder vorwiegend innerhalb der Religionsgemeinschaft gezeugt. Möglicherweise hat sich da genetisch in Wechselwirkung mit der kulturellen Umwelt auch etwas Klitzekleines getan? Oder unter den strengen Atheisten, die sich mit religiösen Menschen nicht verbinden? Andere Menschen entstehen daraus mit Sicherheit nicht, was Sarrazin eindeutig nicht behauptet oder meint!


Für den Fall, dass meine Partei jetzt der Versuchung anheimfällt, mich auszuschließen, tu ich schnell noch kund, ich bin zudem kein globaler Erwärmungsfanatiker! Allerdings bitte ich um Beachtung meiner regionalen Herkunft. Ich stehe zu meiner Sozialisation in Ostdeutschland. Eine Partei, die politisch allmächtig ausschließen will, muss den Delinquenten zuführen (können), was heutzutage für eine Partei gar nicht so einfach ist. Ohne diese ostdeutsche Vorzugsbehandlung sieht mich jedenfalls kein Parteigericht.