Gerhard Schröder akzeptierte den Sieg Angela Merkels nur widerwillig. Wahlergebnisse nicht akzeptieren, das ist eine
Position, die die Bevölkerung nicht versteht. Selbst in der SPD wuchs die Unzufriedenheit mit dem beinahe doch-noch-Wahl-Sieger Gerhard Schröder.
Hamburger Abendblatt:
Schröders Rückzug - heute Entscheidung
Spitzengespräch: Große Koalition in Sicht. Merkel, Stoiber, Schröder und Müntefering wollen heute bestimmen, wer Deutschland regieren soll. Die gestrigen Sondierungen sahen alle als Erfolg.
Von Florian Kain
Im Ringen um das Bundeskanzleramt und eine große Koalition haben CDU/CSU und SPD gestern offenbar den Durchbruch geschafft. Bereits heute - nach Beratungen der Parteivorstände - soll in einem Spitzengespräch die heißumkämpfte Frage, wer Kanzler wird, geklärt werden. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) bekräftigte, er werde der Bildung eines stabilen Bündnisses nicht im Wege stehen.
Bei dem Treffen sollen auch weitere Personalfragen und die Arbeitsweise eines gemeinsamen Kabinetts geklärt werden. Teilnehmen werden neben Schröder und seiner Unions-Herausforderin Angela Merkel auch SPD-Chef Franz Müntefering und der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber. Sowohl Merkel als auch Schröder erklärten gestern nach dem dritten Sondierungsgespräch, sie sähen nun die Basis für eine große Koalition als vorhanden an.
Diese überraschende Wende fällt zusammen mit einem immer lauter werdenden Unmut an der SPD-Basis über das strikte Festhalten der Parteiführung an Schröder als Kanzler. Der frühere Hamburger Bürgermeister und Ex-Bundeswissenschaftsminister Klaus von Dohnanyi sagte dem Abendblatt: "Die SPD wird sich an die Spielregeln halten müssen, und das weiß sie auch ganz genau. Das bedeutet: Sie wird den Führungsanspruch der Union akzeptieren. Es gehört eben zu den Grundsätzen von Regierungskoalitionen, daß die stärkere Partei den Kanzler stellt." Dohnanyi zeigte sich überzeugt, "daß es am Ende darauf hinauslaufen wird." Beide Parteien seien darauf angewiesen, sich zu einigen, denn Neuwahlen bedeuteten keine Lösung. "Auch links der Mitte ließe sich keine Mehrheit für die SPD organisieren, schon weil die Grünen nicht mehr mitmachen würden."
Der direkt gewählte Northeimer SPD-Bundestagsabgeordnete Wilhelm Priesmeyer sagte dem Abendblatt: "Wenn noch länger über diese Frage diskutiert wird, dann ist das eine Blamage vor dem deutschen Volk." Die Forderung der Union, als stärkste Fraktion den Kanzler zu stellen, sei "opportun". Beide Parteien müßten sich "tunlichst auf das Wesentliche konzentrieren. Und das sind die Sachfragen".
Zuvor hatte der Leipziger SPD-Bundestagsabgeordnete Gunter Weißgerber der "Leipziger Volkszeitung" gesagt, er stehe der "jetzigen Situation fassungslos gegenüber". Natürlich habe er sich die Wiederwahl gewünscht, aber es sei nun einmal so, daß die stärkste Kraft in einer Koalition den Kanzler stelle. Auch Detlef Müller, direkt gewählter SPD-Bundestagsabgeordneter aus Chemnitz, forderte, nach dem Urnengang in Dresden das Wahlergebnis anzuerkennen. Wenn der "Krampf" noch lange weitergehe, müsse sich niemand über Politikverdrossenheit wundern.
Unmut gibt es aber auch in der Union. Noch vor der Klärung der Kanzlerfrage hat der CDU-Politiker Friedrich Merz der Kanzlerkandidatin Merkel indirekt die Schuld am schlechten Wahlergebnis der Partei gegeben. Das Resultat sei eine "überdeutliche Antwort" auch auf das personelle Angebot der Union gewesen, schrieb der frühere Bundestagsfraktionschef von CDU/CSU in der "Wirtschaftswoche". Den Namen Merkel erwähnte er nicht ausdrücklich.
Merkel sagte, sie habe von der Kritik gehört. Das müsse man mit gebotener Zurückhaltung betrachten. Eine Wahlanalyse werde es zu einem späteren Zeitpunkt geben. In der Union gelten die Ausführungen von Merz, dem ein zerrüttetes Verhältnis zu Merkel nachgesagt wird, als die bisher stärksten Angriffe auf die Kanzlerkandidatin. Merz dürfte seine Aussichten, einem von Merkel angeführten Kabinett anzugehören, dadurch nicht verbessert haben.
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Friedbert Pflüger empfahl, zum jetzigen Zeitpunkt Schuldzuweisungen zu unterlassen, um den Prozeß der Regierungsbildung nicht zusätzlich zu erschweren.
erschienen am 6. Oktober 2005