Vorgezogene Wahlen 2005. Folgende Mail schrieb ich an die SPD-Mitglieder des Unterbezirks Leipzig-Borna-Geithain.
Die Anrede Genosse verwendete ich nur in meiner Funktion als UB-Vorsitzender zwischen 1998 und 2006.
Als Vorsitzender sah ich mich in der Pflicht, die gesamte innerparteiliche Bandbreite der SPD-Region zu repräsentieren. Also auch die Mitglieder, die als Genosse angesprochen werden
wollten.
Als SPD-MdB formulierte ich konsequent an die Freunde und Freundinnen.
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Gunter Weißgerber MdB
27.05. 2005
Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen,
die Emotionen gehen derzeit hoch. Sie reichen von falscher Politik und falscher Entscheidung des Bundeskanzlers bis zu großer Zustimmung zu sofortigen Neuwahlen. Verständlich ist das alles, die
Situation ist tatsächlich schwierig und muss Emotionen freisetzen. Hinzu kommt, dass wir nun leider nicht die SPD-Grundsatzprogrammdiskussion führen können. Darauf hatten sich schon viele unter
uns gefreut. Auf jeden Fall werden wir jedoch unsere eigene Programmdiskussion „Region Leipzig 2020“, allerdings mit geändertem „Fahrplan“, beginnen. Die öffentliche Auftaktveranstaltung werden
wir noch im Juli durchführen.
Zurück zur Entscheidung für Neuwahlen. Bei objektiver Betrachtung unter Vernachlässigung vieler Emotionen müssen wir uns die Situation vor Auge führen. Was die „Mütter und Väter“ des
Grundgesetzes 1949 sicherlich nicht wollten und dennoch 2005 eingetreten ist, ist die faktische Lahmlegung der gesamtstaatlichen Exekutive durch die Mehrheit der Bundesländer.
Die damit einhergehende Mehrheit von 18 zu 14 Stimmen im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat für die CDU-geführten Bundesländer legt die jetzige Handlungsunfähigkeit der
Bundesregierung endgültig fest.
Und das bis September 2006? Durch die eigene Parteibrille geschaut, mag dies auf begrenzte Zeit als gangbarer Weg gelten, doch auch die Partei würde später von dieser Art Beharrungsvermögen in
Wahlen eingeholt und schwer bestraft.
Die Gesellschaft braucht Parteien bzw. Gruppierungen, die politische Willensbildungen bündeln. Was die Menschen mit Sicherheit und zu Recht ablehnen, das sind Parteien, die offensichtlich ihr
Wohl über das des Landes stellen.
Keine Neuwahlen oder ein Rücktritt des Kanzlers, was mit einem neuen Kanzler durch die aktuellen Mehrheitsverhältnisse zwischen Bundestag und Bundesrat die gleiche Handlungsunfähigkeit wie
derzeit bedeutet hätte, wäre deutlich erkennbar die Überhöhung von SPD-Interessen über die allgemeinen Interessen. Parteiegoismus vor Gemeinwohl? Diesen Ruf dürfen wir uns niemals erwerben! Nicht
nur deshalb habe ich große Achtung vor Gerhard Schröder, Franz Müntefering und unserer gesamten Parteispitze bezüglich ihrer Entscheidung, Neuwahlen für den Herbst 2005 anzustreben und die
Initiative zu behalten.
Alle, die jetzt verärgert denken, die da oben hätten das wenigstens mit der Partei diskutieren sollen, bitte ich herzlich einen Moment inne zu halten. In welchem Zeitraum und mit welch’
verheerender öffentlicher Wirkung hätte diese Diskussion denn stattfinden sollen? Theoretisch denkbar und wünschenswert, praktisch undurchführbar. So jedenfalls mein Fazit dieser verständlichen
und nachvollziehbaren Überlegungen.
Die Situation am NRW-Wahlabend erzwang sofortige Entscheidungen. Zumal die NRW-Wählerinnen und –Wähler als größte und vorläufig letzte Bundeslandsbevölkerung auch faktisch ein Votum über die
Bundesregierung abgaben.
Die Wähler haben die Grundsatzentscheidung, wer die Reform der Bundesrepublik fortsetzen soll, auf die Tagesordnung gesetzt. Die jetzige Bundesregierung kann in den momentanen
Mehrheitsverhältnissen weder ihren Kurs fortsetzen noch gemäß des Monitoring-Prozesses bei Hartz IV Verbesserungen erreichen.
Die Grundprobleme von heute wie demographische Entwicklung, globaler Wettbewerb, riesiger Haushaltsdefizite der öffentlichen Hand und der Sozialsysteme sowie Massenarbeitslosigkeit werden
natürlich auch die des Herbstes 2005 sein. Jede Bundesregierung muss sich diesen Problemen stellen.
Wir haben unsere Antwort gegeben. Wir haben 1998 beginnend besonders die unteren Einkommensschichten entlastet bei gleichzeitigem Schließen vieler Steuerschlupflöcher, weiterführend die Steuern
für die Unternehmen gesenkt und mit der Agenda 2010 die Lohnnebenkosten unter Erhalt unserer sozialen Sicherungssysteme gedeckelt, um den Standort Deutschland innerhalb der EU und weltweit
attraktiver zu machen. Gegenüber 1998 erfuhr jeder Beschäftigte in Deutschland eine spürbare Netto-Entlastung. Ein Vergleich der der Lohn- und Gehaltsbelege 1998/2005 sollte der Mühe wert
sein.
Union und FDP haben immer gesagt, dass diese Politik in die richtige Richtung geht, jedoch überhaupt nicht weit genug. Kopfpauschale im Gesundheitssystem und Abschaffung Kündigungsschutz sollen
hier nur zwei drastische Beispiele sein. Es lohnt, die Vorschläge der Herzog-Kommission nachzulesen.
Die Bevölkerung wählt bisher augenscheinlich unsere Antwort auf die Herausforderungen ab und gleichzeitig die schärferen Antwortgeber auf dieselben Herausforderungen in die Verantwortung hinein.
Da die Annahme nicht zutreffen wird, dass die Bevölkerung es tatsächlich „schärfer“ haben möchte, gehört die Wahl um das richtige Reformmodell auf die Tagesordnung. Wir wollen die soziale
Marktwirtschaft erhalten.
Die Modelle von Union und FDP sprechen eine andere Sprache. Mit einem starken Votum in der Bundestagswahl im Rücken und damit deutlicheren Mehrheitsverhältnissen zu unseren Gunsten im
Bundestag werden wir wieder handlungsfähig. Lasst uns bitte alle dafür kämpfen!
Ein schönes Wochenende wünscht Euch
Gunter Weißgerber