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Rede vor den sozialdemokratischen Opfern des Naziregimes (AvS)


(Im Auftrag der Volkskammerfraktion vor der AvS-Jahresversammlung am 24. April 1990 im Hotel Carlton, Nürnberg, gehalten.)              (Es gilt das gesprochene Wort!)

Liebe Freunde, ich freue mich sehr, gerade vor Euch sprechen zu können. Euer Schicksal muß uns immer Warnung sein, Intoleranz und Menschenverachtung niemals wieder an die Macht kommen zu lassen. Dies gilt übrigens auch, ich hoffe es wird mir nicht übel genommen, für die SED-Diktatur. Ihr habt es sicherlich sofort bemerkt. Genosse stellt für mich keine Notwendigkeit im Umgang miteinander dar. Unter diesem Begriff wurden Millionen Menschen umgebracht und drangsaliert. Außerdem war man auch ständig im normalen Leben vom Genossensprachzwang umgeben. Ich akzeptiere natürlich Eure Anwendung dieser Anrede. Ihr habt keine negativen Erfahrungen mit ihr sammeln dürfen. Vielleicht bin ich später bereit zu diesem Gruß, doch muß ich dann die erreichte innere Einheit der gesamtdeutschen SPD spüren können. Als Ausdruck vorauseilendem Gehorsams sehe ich mich nicht bemüßigt, meine Freunde mit Genosse anreden zu müssen. Ihr seht, wir müssen Geduld miteinander haben.
Eingangs möchte ich mich kurz vorstellen. Geboren wurde ich am 24.11.1955 in Mildenau bei Annaberg im Erzgebirge. Aufgewachsen bin ich die ersten 10 Lebensjahre in Annaberg, später dann in Böhlen bei Leipzig. Zu diesem Umzug meiner Familie sahen sich meine Eltern genötigt, da mein Vater kurz nach dem Mauerbau aus dem Dienst der Deutschen Post in Annaberg aus politischen Gründen entlassen wurde. Erstens sagten ihm die ihm angebotenen Arbeitsplätze niederer Qualität nicht zu und zweitens war er zur Montagearbeit gezwungen. Also weg von der Familie. Diese erlittene Unbill ist nicht zuletzt Wurzel meines heutigen politischen Engagements. Der Stasistaat bewirkte halt ungewollt auch Gutes... .
Politisch so richtig wirksam wurde ich im Herbst 1989. Ursprünglich in das Neue Forum eingetreten, wechselte ich sofort in die entstehende SDP. Ihr galt meine Sehnsucht. Bebel, Schumacher, Brandt, Renger und Schmidt sind die Verursacher meines Sozialdemokratismus'. Innerhalb der Leipziger Montagsdemos fungierte ich als Kundgebungsredner. Sprach also vor den hunderttausenden Menschen. Immer war es aber nicht angenehm. Mit zunehmender Zeit wurde es ziemlich ungemütlich da oben auf dem Balkon des Leipziger Opernhauses.

An Parteifunktionen bekleidete ich bisher Ortsvereinsvorsitz, Kreisparteivorstandsmitglied und stellvertretender Kreisvorsitzender. Vielleicht ist es noch erwähnenswert, daß ich zu den Gründern der Kurt-Schumacher-Gesellschaft der DDR gehöre. Diese gründeten wir in Anwesenheit Annemarie Rengers und ihres Mitarbeiters Horst Becker am 4.2.90 in Leipzig. Die Volkskammerfraktion vertrete ich im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit, also Entwicklungshilfe.

Meine politischen Ziele im jetzigen Zeitraum 1989/90 sind kurz zusammenzufassen:
- Die deutsche Einigung muß auf den Weg gebracht werden
- Die parlamentarische Demokratie gilt es zu errichten
- Statt der sozialistischen Planwirtschaft müssen wir einen
  schmerzlosen Übergang zur sozialen Marktwirtschaft vollziehen
- Die Geschichte der SBZ/DDR muß aufgeklärt, die Opfer
  müssen rehabilitiert werden. Außerdem benötigen wir eine
  diesbezügliche Historikerkommission.

Liebe Freunde, eingangs sagte ich es bereits, daß es mir eine Ehre ist, vor Euch, den Opfern der schlimmsten deutschen Diktatur, über die Ost-SPD sprechen zu dürfen. Ich bin voller Hochachtung vor Eurem Leidensweg. Einige Euerer Schicksale lernte ich ja bereits in einem Seminar der Kurt-Schumacher-Gesellschaft in St. Andreasberg im Harz im Februar kennen und achten. Logischerweise steht momentan jedoch der Leidensweg der Sozialdemokraten in der SBZ auf der Tagesordnung. Zur Entrümpelung der kommunistischen Diktatur benötigen wir gerade die Erfahrungen der SED-Opfer. Dies ist keine Verdrängung der Nazidiktatur, bitte versteht das, es ist ganz einfach eine momentane Rangfolge. Die SBZ-Aufklärung ist notwendig für die Auseinandersetzung mit den Nachfolgern der SED. Ein zweites Mal darf es nicht zugelassen werden, daß die Deutschen ihre Lektion nicht lernen! Außerdem müssen wir mehr um die Zwangsvereinigung von SPD und KPD wissen. Dies alles hat Eingang in die Schulbücher zu finden. Wir brauchen aufgeklärte Menschen. Nie wieder darf es zu Terrorregimen in Deutschland kommen.

Die Sozialdemokratie in der DDR schöpft aus
- der 126jährigen Tradition der SPD
- den Erfahrungen unter dem Sozialistengesetz
- dem Wirken in der Weimarer Republik
- der NS und SED-Zeit

Kurz und gut, der Weg der deutschen Sozialdemokratie hat mich immer angezogen. Und heute gehöre ich dazu.

Die SPD zwischen den verschiedenen Wahlen in Ostdeutschland:
a) Zurückliegende Volkskammerwahl
Wir starteten mit einem hohen Anspruch, wohlwissend, daß neben der großen Chance der Mitbestimmung in der Volkskammer, unsere Wahlausgänge eine beachtliche Bedeutung für künftige Bundestagswahlen in der Bundesrepublik haben werden. Doch groß war unsere Enttäuschung. Die SPD erreichte 22 % und die Allianz für Deutschland 48 % der Stimmen. Zwar glaubte ich selbst nie an die prophezeiten 54 % für die SPD, doch rechnete ich schon mit wenigsten 30 %.
Heute wissen wir, die Wahl war überhaupt nicht zu gewinnen. Nach 40 Jahren pseudolinks hatte alles was nach links roch keine Chance. Dagegen war die Allianz
[1] auf Grund der Wahlpropaganda unter anderem der sicherste Schutz vor Kommunisten (Unterwanderungslüge: SPD von SED-Mitgliedern unterwandert). Das dem nie so war, im Gegenteil die Blockflöten gute Verbündete für die SED waren, interressierte wenige Wähler. Außerdem hatte die CDU ja schließlich angeblich DAS GELD. Ein großer Irrtum, wie wir wissen. Zugriff auf das Geld der Steuerzahler hat die CDU lediglich als Regierungspartei. Diesen Vorzug genießt üblicherweise jede Regierung. Der Wahlausgang kam jedenfalls einem Kulturschock gleich. Apathie legte sich auf viele unserer rührigen Mitglieder. Bis zu den Kommunalwahlen am 6. Mai wird sich nicht mehr viel ändern.

b) Kommunalwahlen
In Leipzig werden wir sicher etwas besser abschneiden. Wir konnten Hinrich Lehmann-Grube aus Hannover als Spitzenkandidaten gewinnen. In einer Zeit, wo alles nach Westimport schreit, werden die Menschen den erfahrenen Westdeutschen wählen. Dies übrigens auch aus Klugheit. Ich gehe davon aus, daß Leipzig wieder eine rote Festung wird.

c) Unser schwieriger Weg zur Koalitionsentscheidung
Wir Neuabgeordneten mußten unter Abwägung verschiedener, teilweise sehr berechtigter, Aspekte eine grundlegende Entscheidung treffen - Opposition oder Koalition. Gegen Koalition standen neben den Argumenten der blockflötigen Vergangenheiten unserer etwaigen Partner die Narben aus dem Wahlkampf zu Buche. Die Verleumdungen als SED-unterwanderte Partei hatten bei vielen unserer Mitglieder regelrecht Haß und Abscheu vor der verlogenen Allianz für Deutschland produziert. Der Ärger legte sich bei manch einem Sozi auf den erlebten Verdruß über die SED, gleichsam den alten Ärger überdeckend. Selbstverständlich gab es auch die normale Abneigung der CDU gegenüber. Der Block der Oppositionsverfechter war ursprünglich relativ groß, schmolz aber von Tag zu Tag dahin. Die Vorstellung mit der PDSED gemeinsam Oppositionspolitik zu betreiben, schien auch mir grauenhaft. Die Gefahr der Legendenbildung, gegen die deutsche Einheit gewesen zu sein, da man ja in entscheidender Stunde freiwillig auf der Oppositionsbank Platz nahm und demnach dagegen zu sein, wurde von immer mehr Abgeordneten nicht unterschätzt. Eine zweite Dolchstoßlegende mußte vermieden werden. Belastend wirkt sich in dieser Hinsicht die deutschlandpolitische lasche Haltung der heutigen SPD-Führung/West auf unsere Politik aus. Man könnte meinen, die Ostdeutschen Sozis retten die Ehre der deutschen Sozialdemokratie. Aber vielleicht packt's Oskar noch? Auf unserem ersten DDR-Parteitag in Leipzig/Markkleeberg vermittelte er allerdings nicht das Verständnis der Problematik in Deutschland. Zurück zur Koalitionsentscheidung. Die Basis hatte es leider auch nicht sehr leicht unsere Entscheidung nachzuvollziehen. Der Ostberliner Parteivorstand ging regelmäßig montags in die Medien mit Ankündigungen unserer Oppositionsrolle und die Fraktion durfte dann dienstags die vortägliche Vergewaltigung ausbaden und aus ihrer Sicht an die Presse gehen (übrigens ein bekannter Umstand aus der Kaiserzeit, damals haderten Fraktion und Vorstand ebenfalls oft mit sich). Die Basis möchte ich sehen, die da durchblickt! Mitglieder liefen uns in der Folge davon. Allerdings nehme ich an, daß eine Entscheidung zugunsten Opposition gleiche Wirkungen gehabt hätte. Also, wir die SPD-Ost nehmen die Verantwortung für Deutschland wahr. Außerdem glauben wir in den Koalitionsvereinbarungen sozialdemokratische Handschrift hinterlassen zu haben. Letztendlich steht uns immer ein Austritt aus der Regierung frei, können also Flagge zeigen, wenn es nicht mehr tragbar ist.

d) derzeitige Hauptprobleme für die Partei im Osten
- Abgrenzung zu PDSED. Wir müssen eine Kommunismusdiskussion führen, hier könnt Ihr mithelfen. Wir haben achtbare Leute in unseren Reihen, nur wissen sie leider praktisch so gut wie nichts über den Terroristen Lenin und seine Anbeter. Da werden sozialdemokratische humane Aspekte auch den Kommunisten gutgeschrieben usw. Hier hilft nur Aufklärung.
- Medienpräsenz
Die alten SED-Zeitungen lieben uns nun mal nicht. Neue, uns offene Zeitungen gibt es wenige. Somit findet Öffentlichkeit selten mit uns statt. Hier brauchen wir noch viel frische Luft in den Chefetagen und Zeit.
- Unsere eigene Zeitung
„Der neue Sozialdemokra“t wird leider nicht gekauft. Wir haben hohe Finanzverluste mit unserer Zeitung. Personal können wir nicht bezahlen, lediglich Material und Druckkosten. Die Einstellung unserer Zeitung ist somit abzusehen.
- Strukturaufbau
In Sachsen sind wir noch nicht vernetzt, einen Landesvorstand wird es erst im Juni geben. Momentan haben wir Bezirksvorstände in Dresden, Chemnitz und Leipzig.
- Manfred (Ibrahim) Böhme
Der Fall ist tatsächlich hochproblematisch. Vieles an den Anschuldigungen leuchtet ein, ich hoffe nur, daß alles nicht stimmt. Immerhin ist er ein derzeitiger Sympathieträger.
Zur Partei bleibt aus meiner Sicht lediglich zu sagen, daß wir die sofortige Vereinigung brauchen. Ohne erfahrenes Managment werden wir es schwer haben. Die Vereinigung dürfte auch stark motivierend auf unsere Mitglieder wirken. Nicht zuletzt benötigen wir Unmengen an Material, Literatur, Finanzen und nicht zu vergessen: Rechtshilfe. Unser SPD-Eigentum muß zurückgeholt werden.
Liebe Freunde, ich komme zum Ende. Möchte nur noch einige Worte zur Problematik VVN
[2] sagen. Wir haben übrigens in Leipzig in Anspielung auf den VVN eine VVS gegründet, eine Vereinigung der Verfolgten des Stalinismus (obwohl Stalinismus an sich irreführend ist). Ich habe den VVN nie richtig akzeptieren können. Zu stark war die kommunistische Steuerung zu erkennen. Dies ist bedauerlich, immerhin vertritt der Verein auch tatsächliche Opfer, nicht nur SED-Mitläufer. Aber leider kennen wir auch den Umstand der Nichtanerkennung des Opferstatus' im Falle "nichtangenehmer Nasen"[3].
Ich bedanke mich für Euere Konzentration und füge noch die Bitte um Zusendung des AvS-Infodienstes an.

Danke!

 

 

 



[1]"Allianz für Deutschland" aus CDU, DA, DSU.

[2]Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes.

[3]In der DDR wurde nicht jedem ehemaligen KZ-Häftling der Status eines Verfolgten zuerkannt. Wichtig vielmehr war hierfür die Nähe zur SED. Kritiker und Gegner der SED gingen oft leer aus.