Auszug aus meinen Aufzeichnungen „Mein erstes Jahr in der Politik“
III Spannungsbogen „Asche“ Nationale Volksarmee – Studium
Vor jedem Jungen in der DDR stand die Gewissheit, nach der Berufsausbildung oder vor dem Studium den verhassten Dienst in der Untertanenarmee „Nationale Volksarmee“, im Volk „Asche“ genannt, ableisten zu müssen. Selbst die DDR-Überzeugten waren von dieser Vorstellung nicht begeistert. Das Reservoir, Unteroffiziere oder Offiziere zu bekommen, war für die Machthaber sehr klein. Nur unter Druck war der Bedarf an Befehlsentgegennehmern und –weiterleitern zu decken. Der Druck hieß bei Abiturienten Gewährung/Verweigerung des Studienwunsches. Aufgebaut wurde dieser Druck in systematischen Gesprächen.
Erstmalig gemustert wurde ich am 10. April 1973 (Fotos Wehrdienstausweiseintragungen und Erkennungsmarke).
In diesem „Gespräch“ gab ich vorsorglich reale (Großtanten wurden zu Tanten in Köln und Nürtingen) und erfundene Westverwandtschaft (Freundinnen meiner Mutter als Tanten in Bremen und Duisburg)
an. Unter den vom Wehrdienst bedrohten Jungs ging nämlich die Saga um, wer Westverwandtschaft hat, wird nicht zur Grenze gemustert und nach der Schießbereitschaft befragt. An die Grenze wollte
ich unter keinen Umständen.
Das Thema „Grenze“ spielte an diesem Tage auch keine Rolle. Da mein Abitur für das Frühjahr 1975 anstand, wurde ich in dieser Musterung bis 28.Februar 1974 für den Wehrdienst zurückgestellt. Mit Ablauf dieser Frist wurde ich zu einer zweiten Musterung für den 25. März 1974 einbestellt.
Auch in dieser Musterung wurde das Thema Grenzdienst nicht angeschnitten. Ich wurde für den Dienst als „Mot.-Schütze“ (vergleichbar der „motorisierten Infanterie“ in der Bundeswehr) gemustert, zu
dessen Einberufung ich ab November 1975 rechnen musste. Mot.-Schütze wäre im kleinen Inland ziemlich übel gewesen, bedeutete dafür aber: kein Schießdienst an der Zonengrenze!
Insofern war ich beruhigt, denn um die Armee herum wäre ich ohnehin nicht gekommen. Allein meine Mutter wollte die Ängste, die sie zwei Jahrzehnte vorher wegen meines Vaters aushalten musste,
wegen ihres Sohnes nicht noch einmal durchleiden. Es musste also irgendwie anders gehen. Keine Ahnung, wie.
Parallel zu den für meinen Jahrgang üblichen Musterungsterminen liefen in den 11. und 12. Klassen die bereits angedeuteten systematischen Druckgespräche mit den kommenden Abiturienten wegen einer freiwillig längeren Dienstzeit bei der Armee. Der Schwerpunkt lag auf der Werbung für drei Jahre statt 18 Monate. Doch wurden in solchen Gesprächen auch „Zehn-Ender“ (10 Dienstjahre) und Offiziere (25 Dienstjahre) „erzeugt“.
Mindestens einmal im Quartal gab es beim Schuldirektor diese als Drangsal empfundenen Drückergespräche im Beisein von Direktor, Klassenlehrerin, FDJ-Sekretär, Parteisekretär, Leiter des Wehrkreiskommandos, in denen die Schüler zu mehrjährigen Armeezeiten überredet werden sollten.
Diesem Druck hielten viele nicht stand. Manchen war tagelang vorher regelrecht schlecht. Sie wollten studieren, die Elternhäuser wünschten dies oft auch. Auswege wurden nicht gesehen. Allein in meiner Klasse blieben von 19 Jungs mit mir ganze drei standhaft. Alle anderen verpflichteten sich auf mindestens drei Jahre NVA.
Die meisten durchlitten später diese Zeit, manche zerbrachen dort.
Mein letztes diesbezügliches Gespräch ist mir vom Herbst 1974 in Erinnerung. Der Chef vom Wehrkreiskommando Borna, ein bulliger, primitiver Typ, bohrte, weshalb ich nicht drei Jahre zur NVA gehen wolle. Ich antwortete, dass ich solche Fragen weder beantworten noch dies begründen müsse. Er hätte mich gefragt, ich hätte mit Nein geantwortet, dies müsse unter erwachsen Menschen genügen. Eine Begründungspflicht könne ich für mich als einen offiziell mündigen Bürger beim besten Willen nicht erkennen. So meine Argumentation damals.
Er wurde dann frech und fragte, was denn mein Vater zu so einem feigen Sohn sagen würde. Da ging ich los! Das war eindeutig zuviel. Mein Vater hätte Krieg und fünf Jahre Gefangenschaft kennengelernt und sei froh, dass seine Söhne nicht freiwillig zur Armee gehen wollen.
Der Typ wurde dann hinsichtlich meines Vaters ausfällig. Daraufhin sagte ich, wenn das Gespräch so weitergehen soll, würde ich aufstehen und den Raum verlassen. Meinen Vater liesß ich nicht beleidigen.
Der Wehrkreismensch explodierte, wollte mir fast eine schmieren. Wortlos stand ich auf und verließ den Raum. Die Klassenleiterin mir hinterher. Sie bat mich eindringlich, ich solle mich entschuldigen, meine Zukunft stünde auf dem Spiel. Meine damalige Antwort: „Ich weiß, wer sich zu entschuldigen hat. Das bin nicht ich! Der Blödmann ist dran.“ Dann bin ich endgültig gegangen. Sie rief mir nach, dass der Wehrkeiskommandochef gesagt habe, der „kleine Weißgerber“ wird das schwer bereuen!
Es folgte wenig später die Absage, ein Bauingenieurstudium beginnen zu können. Und: Ein Jahr später kam statt der Einberufung zu den Mot.-Schützen fünf Tage
vor dem Gestellungstermin völlig überraschend die Einberufung nach Eisenach an die Grenze. Es war ein Riesenschock für die ganze Familie! „Gunter soll Flüchtlinge erschießen? Er soll Mörder
werden!“. Noch hatte ich ein halbes Jahr Zeit, dies vielleicht abwenden zu können. Die wehrpflichtigen Grenzer mussten sechs Monate sogenannte „Grenzdienstausbildung“ vor ihrer Versetzung „an den
Strich“ durchlaufen. Ich wollte mir Mühe geben, es vielleicht doch noch abwenden zu können ohne Mutter mit einer Wehrdienstverweigerung neue Sorgen machen zu müssen.
1975 wurde ich also zum 4. November 1975 zu den Grenztruppen gezogen. Weder hatten mich die politischen Kollisionen meines Vaters davor schützen können, noch die Angabe realer und erfundener
naher Verwandtschaft in der Bundesrepublik. Von Abiturienten wurde seitens des Regimes angenommen, dass diese für den Preis des späteren Studiums an der Grenze gut funktionieren würden.
An die Grenze?! Das war ein harter Schlag für mich und meine Familie. Zu denen zu gehören, die die Wolfsgesetze des Unrechtsstaates an dessen Grenze auszuführen hatten? Die auf unschuldige
Menschen im Namen eines Verbrechergebildes schießen sollten? Ausgerechnet ich? In der Familie freuten wir uns über jede Nachricht von geglückten Fluchten über diese Schweinegrenze, waren
tieftraurig bei Meldungen über missglückte Fluchtversuche, freuten uns über jeden DDR-Sportler, der im Westen blieb. Und dann so was? Noch heute kommt mir das Würgen von damals wieder
hoch.
Studieren wollte ich, mich und meine Familie gefährden wollte ich nicht, also was tun? Ich entschied mich für eine unauffällige Variante. Ich infiltrierte
meine Abneigung unter den Soldaten, mit denen ich die sechs Monate Grenzausbildung in Eisenach absolvieren musste und sinngemäß sprach ich mit verschiedenen Rekruten, von denen ich annahm, diese
würden es weitertragen, von meiner Abneigung „auf Deutsche schießen zu müssen, die doch nur von Deutschland nach Deutschland wollen“.
Überall in der DDR-Armee war in der Freizeit der Zwang zum täglichen Sehen der „Aktuellen Kamera“ und montags des „Schwarzen Kanals“ obligatorisch. Fast jeder
Soldat drückte sich davor wie und wo er nur konnte. Ein Erlebnis in diesem Zusammenhang ist mir noch gut in Erinnerung. Die gesamte Stube sollte wieder einmal den „Schwarzen Kanal“ ansehen. Ich
wollte nicht, drei weitere Mitinsassen wollten das genauso wenig. Wir verdrückten uns auf die Toiletten. Alle vier in eine einzige kleine Toilette. Beim Zählen der Fernsehteilnehmer fiel dem
Spieß das Fehlen von vier Leuten auf und er ging auf Suche. Selbstverständlich fand er uns eingezwängt im Kabuff. Wir mußten natürlich in den Fernsehraum zu „Sudel-Edes“ Schrottsendung (aus einer
verkehrten Welt) gehen und danach noch den Kompanieflur zur Strafe wischen.
Gut zum Thema „Schwarzer Kanal“ passend, noch eine Ergänzung zum Radio-Hören in der Soldatenstube. Streng vorgeschrieben war das Hören von DDR-Sendern. Hierzu
mussten mittels Filzstiften oder Heftpflastern die Frequenzen auf der Skala markiert werden, die DDR-Sendern vorbehalten waren. Ich besaß einen „Sternautomatik N“ mit einer großen Skala und drei
kleinen Drehknöpfen für weitere Sender. Auf der Skala markierte ich vorschriftsgemäß die Zonensender. Der Zeiger stand auch immer unter so einer Markierung. Ein Blick eines Vorgesetzten und alles
schien in Ordnung. Die kleinen Drehknöpfe waren es, die für mich wichtig waren. Ein jeweils etwas breiterer Strich auf dieser Skala überdeckte einen größeren Frequenzbereich und damit mehrere
Sender. Mit einem dieser drei Knöpfe hatte ich Hessen 3 eingestellt. Dieser Sender lief dann immer, wenn ich allein oder zusammen mit Vertrauten im Zimmer war.
Foto: „Sternautomatik N“
Ich wollte als Sicherheitsrisiko aber (ohne eigenes Knastrisiko) erscheinen. Irgendwie klappte das. Kurz vor der Versetzung an die Grenze war ein letzter Ausgang in Eisenach. Ein SED-Mitglied
meiner Stube, der regelmäßig an den SED-Runden der Kompanieführung teilnahm, ging mit mir in Ausgang raus. Wir saßen den ganzen Abend gemeinsam in einer Gaststätte. Er sprach zu mir durch die
Blume über den Grenzdienst und mein offenkundiges Ablehnen desselben. Zuletzt ließ er die Frage gucken, ob ich was ohne Waffen machen würde. Ich bejahte und er sagte zu mir „Ich kann Dir helfen“.
Mehr erfuhr ich nicht von ihm.
Wenige Tage später, am 28. April 1976, als die 1500 frisch Ausgebildeten von Eisenach an die Grenze versetzt wurden, geschah das völlig Unerwartete. Drei Rekruten wurden herausgerufen, darunter
ich. Wir kamen in eine Fernmeldebaukompanie (FMBK 27) nach Neustädt bei Gerstungen. Ich bin dem Mann heute noch dankbar.
Statt
unfreiwillig eventueller Todesschütze zu werden, musste ich dann bis kurz vor Ende meiner Armeezeit bis zu 12 Stunden täglich Kabelgräben an der Grenze schachten. Das war harte Arbeit, aber ich
war davongekommen ohne andere zu schädigen oder mich und meine Familie in Kummer stürzen zu müssen. Denn geschossen hätte ich auf Flüchtlinge niemals, eher wäre ich in den berüchtigten
Militärknast nach Schwedt gegangen. Das stand für mich felsenfest!
Kaserne Neustädt bei Gerstungen/Foto unbekannt aus Internet/ zu DDR-Zeiten Sitz der FMBK 27/Fernmeldebaukompanie