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GST-Lager und Wolf-Dieter Müller

 

Auszug aus meinen Aufzeichnungen „Mein erstes Jahr in der Politik“


II Erweiterte Oberschule (EOS)

1970 kam ich zur Erweiterten Oberschule (EOS) nach Borna. Zuerst zwei Jahre Vorbereitungsklassen 9 und 10 für die Abiturstufe, dann Abiturklassen 11 und 12. Sehr bald im Herbst 1970 hospitierte der EOS-Direktor, ein hart auftretender Apparatschik, in meiner Klasse wahrscheinlich wegen mir. Nach seiner Auswertung mit der Klassenleiterin kam diese zu mir und sagte, ich solle ab sofort die „amerikanischen Schlosserhosen“ ausziehen und zum Friseur gehen. Zu Hause wurde mir von meiner besorgten Mutter klar gemacht, dass ich diesen Forderungen nachkommen müsse. Ich müsste doch wissen, dass mein politisch in Kritik stehender Vater mir nicht helfen könne, wenn ich von der Schule fliegen würde. Ich war erst 15 und folgte ihr (noch). Ursprünglich wollte ich dem Direktor meinen Protest auf Klopapier schreiben und im Direktorenzimmer abgeben. Auch den Gang zum Friseur hatte ich nicht vor, wobei dieser Friseurgang bis zur Armeezeit 1975 dann tatsächlich mein letzter Besuch bei einem Vertreter dieses Handwerks wurde. Zwei Jahre später kam ein neuer, schneidiger Direktor, der sich um diese Dinge nicht mehr zu kümmern schien. Der Mann stand mehr für die versteckte Repression.

 


Im Sommer 1974 stand das obligatorische zweiwöchige GST-Lager auf der Tagesordnung. GST bedeutete „Gesellschaft für Sport und Technik“ und war ein straff politisch geführter Verein. Eine Verweigerung der Teilnahme hätte bedeutet, dass ich nie hätte studieren können. Schweren Herzens biß ich in den sauren Apfel. Meine Wut auf die DDR stieg damit und machte mich in künftigen Auseinandersetzungen noch widerwilliger.

 

„Das GST-Lager oder Wehrlager war ab Anfang der 1980er Jahre eine Art "militärisches Ferienlager" für die männlichen Schüler der 9. Klassen der POS und am Anfang der Klasse 11 der EOS, in dem die vormilitärische Ausbildung durchgeführt wurde. … Die Ausbildung im Lager ähnelte der Grundausbildung in der NVA. Bestandteile waren u.a. das Training im Handgranatenwurf ("F1"-Handgranatenattrappe), das Schiessen mit Kleinkaliberversionen der Kalaschnikow-Maschinenpistole, das Bewegen und Orientieren im Gelände, teils auch das Überwinden der Sturmbahn. Dazu kamen Ordnungsübungen ("Exerzieren") sowie militärtheoretischer und politischer Unterricht, der von Armeeangehörigen durchgeführt wurde.“ (Quelle http://www.ddr-wissen.de/wiki/ddr.pl?GST-Lager).

Die Schüler der EOS Borna mußten in das GST-Lager Tambach-Dietharz im Bezirk Erfurt (seit 1990 wieder Thüringen). Dort traf ich Wolf-Dieter Müller wieder. Er war eine Klassenstufe über mir und hatte das Lager bereits im vorigen Jahr widerwillig absolviert. Durch eine politische Bestrafung gezwungen, war er nun das zweite Mal dabei. Wir kannten uns durch Gespräche über Musik, er war Mitglied einer Schülerband und spielte hemmungslos Westmusik. Mit seiner Band spielte er auch "Thick As A Brick" von Jethro Tull - ein Werk, an das sich nicht viele Bands herantrauten!

Aus einer "Penne-Band" hervorgegangen: Kontrast


zweiter von links Wolf-Dieter Müller


Wir waren politisch und musikalisch auf einer Ebene. In einem Gespräch viele Jahre später, Oktober 2021, sagte er mir, dass ich ihm damals meinen festen Willen zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei mit dem Ziel der Deutschen Einheit deutlich machte. Das war damals eine sehr gefährliche Aussage und es sprach für Wolf-Dieter Müller, dass er das viele DDR-Jahre für sich behielt.

 

Ab 1973 lief im Westfernsehen die legendäre Serie „Ein Herz und eine Seele“ mit Heinz Schubert in der Rolle des sozifressenden „Ekels Alfred Tetzlaff“. Anfänglich nur im WDR, wenig später in der ARD. Im Freundeskreis war die politische Haltung meines Vaters relativ gut bekannt. So gut bekannt jedenfalls, dass ich mit meinem Vater regelrecht aufgezogen wurde. So fragte man mich manchmal scherzhaft, was denn „Alfred dazu sagt?“ Und mit „Alfred“ war mein Vater Kurt gemeint.




Dr. Wolf-Dieter Müller antwortete am 19.01.2022 auf diesen Artikel:

Lieber Gunter,

danke für die Erinnerung an das Jahr 1974! Für mich war diese GST-Lager-Wiederholung damals Höchststrafe, weil ich eigentlich nach erfolgreich bestandenem Abitur mit meinen Motorrad-Freunden den Sommer in Ungarn am Balaton genießen wollte. Ein Abiturstreich, der von der Schulleitung leider politisch ausgelegt wurde, war mir zum Verhängnis geworden. Dass ich nicht von der Schule flog, hatte ich nur dem Umstand zu verdanken, dass bei der an sich harmlosen Aktion auch „Delinquenten“ mit einflussreichen Eltern beteiligt waren. Ansonsten wäre es mir (ohne Jugendweihe-Bekenntnis, ohne Verpflichtung zu längerem Wehrdienst und als aktives Mitglied der Jungen Gemeinde) in der DDR sicherlich nicht allzu gut ergangen. Nichtsdestotrotz haben wir damals den sozialistischen Drill und das ätzende Militärgedusel gemeinsam mit anderen subversiven und intelligenten Freigeistern relativ unbeschadet überstanden! Und Du hast später tatsächlich Dein damaliges visionäres Versprechen wahr gemacht und nach dem Ende der DDR die SPD-Ost mit gegründet.
Die Balaton-Motorradtour meiner Freunde war erwartungsgemäß grandios; ich hingegen war und bin froh, damals mit einem „blauen Auge“ davongekommen zu sein und obendrein Freunde wie Dich kennengelernt zu haben, mit denen ich, auch aufgrund der damaligen Erfahrungen, bis heute die gleichen Grundüberzeugungen teile wie bereits (!) 1974.

Danke für Deinen Blog und alles Beste für 2022!

Wolf-Dieter

 
Eine ähnliche Begebenheit gab es 2013 in Freiberg. Wir hatten Seminargruppentreffen der "Tagebauer" und gleich bei der Begrüßung kam Michael Kümmel auf mich zu und sagte, "... dass er sich lange auf mich gefreut hatte. 1978 hätte ich vor Freunden beim Thema eventuellen SED-Eintritt wegen des Studiums erklärt, dass ich niemals SED-Mitglied werden würde, meine Partei gäbe es bereits seit 1863 und in die werde ich irgendwann eintreten! Es sei die SPD und wenn das einmal möglich sein wird, dann haben wir auch die Deutsche Einheit in Freiheit!" Michael Kümmel sagte weiter, "... dass er meinen politischen Werdegang immer gern verfolgt habe und 1989/90 festgestellt habe, es sei alles so gekommen und ich sei meiner Linie treu geblieben."